Im Fall Deniz Yücel ist kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten

Keine Frage der Ehre

Seit einem Jahr ist der »Welt«-Korrespondent und Mitherausgeber der »Jungle World«, Deniz Yücel, in der Türkei ohne Anklage in Geiselhaft. Er ist ungebrochen.
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Vor ziemlich genau elf Jahren stellte Deniz Yücel in dieser Zeitung »Mutmaßungen über ein Land, seine Leute und seine Mörder« an, also über die gesellschaftliche Verfasstheit der Türkei kurz nach dem Mord an dem Journalisten Hrant Dink. Diesen hatte Deniz zwei Jahre zuvor für die Jungle World interviewt . In seinem Essay verglich er das Attentat mit den vielen Hundert Ehrenmorden, die damals bekannt wurden.

»Jedes Schulkind könnte sagen, was diesen Mord von den anderen Fällen unterscheidet. Interessant aber sind die Gemeinsamkeiten.« Deshalb beschäftigte sich Deniz mit dem Phänomen der »Ehre«, des Beleidigtseins in der Türkei, das auch eine politische Dimension hat. Der Mörder von Hrant Dink hatte als Motiv angegeben, dass der Journalist die Türken »beleidigt« habe. 2005 war Dink von einem Gericht wegen »Beleidigung des Türkentums« verurteilt worden. Deniz diagnostizierte einen »tief in der Gesellschaft sitzenden und mit einem kollektiven Größenwahn verbundenen Minderwertigkeitskomplex, den die Landsleute bekanntermaßen oft vor aller Welt zur Schau stellen«.

 

Er trägt einen Bart, hat ein paar graue Haare mehr als früher, so hören wir von den wenigen Menschen, die ihn zu Gesicht bekommen. Die rechte Handfläche ist mit dicker Hornhaut bedeckt: vom Schreiben mit dem Stift. Er schreibt viel. Am 14. Februar erscheint sein neues Buch

 

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat in den vergangenen Jahren diesen Komplex bis zur Lächerlichkeit zur Schau gestellt. Er war ­angeblich ständig »beleidigt«. Es ist immer dasselbe: Besonders schnell in ihrer Ehre verletzt sind jene, die über nichts verfügen, was ehrbar wäre; die weder in der Lage sind, respektvollen Umgang mit anderen zu pflegen, noch, eigene Schwächen einzugestehen.

Tatsächlich sitzt Deniz auch deswegen noch immer im Knast. Erdoğan will sich als starke, gnadenlose Siegertype inszenieren – dies jedoch nicht nur aus Egomanie. Es geht bei seinem nationalen, neoosmanischen Größenwahn nicht um Gefühlsduselei, sondern um knallharte Politik. Und Deniz ist eine Geisel, die für den Despoten nun, da er auch noch einen neuen Krieg vom Zaun gebrochen hat, noch wertvoller geworden ist.

Einmal hat die Türkei bereits vergeblich versucht, das Faustpfand einzulösen, sie wird es nun nicht leichtfertig herausrücken – aber, so müssen wir als Freunde und Kollegen von Deniz wohl ­hoffen, es irgendwann doch gezielt einsetzen, am besten bald. Auf ein rechtsstaatliches Verfahren zu hoffen, wäre naiv. Und ­sicher wird Erdoğan dann – indirekt natürlich, aber dennoch unverhohlen – herausstellen, dass er eine großartige Gegenleistung dafür erhalten habe – ein Waffengeschäft, ein Zugeständnis der Nato oder was auch immer. Ob dies tatsächlich Ergebnis eines »Deals« gewesen sein wird, wird vermutlich Auslegungssache sein. Deniz wird darauf keinen Einfluss haben.

Aber er hat deutlich gemacht, dass er das ablehnt, dass er seine Freiheit nicht einem Panzerdeal verdanken möchte. Er ist un­gebrochen, sagt weiterhin, was er denkt, und hat angekündigt, dass er die Häftlingsuniform, die in der Türkei für angebliche Terroristen eingeführt werden soll, um Gefangene bei Erscheinen vor Gericht zu stigmatisieren, auf keinen Fall tragen wird – bei allen möglichen Konsequenzen. Nicht wegen der »Ehre«, sondern wegen des Rechtsstaats, in dem ein Angeklagter vor dem Richter eine Chance haben muss.

Deniz geht es den miserablen Umständen entsprechend gut, er hat gelernt, mit dem Knastalltag zurechtzukommen. Er trägt einen Bart, hat ein paar graue Haare mehr als früher, so hören wir von den wenigen Menschen, die ihn zu Gesicht bekommen. Die rechte Handfläche ist mit dicker Hornhaut bedeckt: vom Schreiben mit dem Stift. Er schreibt viel. Am 14. Februar erscheint sein neues Buch (siehe Imprint). Er hat es unter abenteuerlichen Umständen im Knast selbst redigiert.

Und so vergeht die Zeit. Wie viele Sommer hat man? Wie viele Schneemänner kann man bauen? Unsere Zeit auf der Erdkugel ist natürlicherweise begrenzt. Ein ganzes Jahr seines Lebens hat man unserem Freund nun schon geraubt. Währenddessen serviert Bundesaußenminister Sigmar Gabriel seinem »Freund« und Amts­kollegen Mevlüt Çavuşoğlu Tee. Über die Nachrüstung der deutschen Leopard-Panzer könne man reden, sagt er, vielleicht während er ­gerade nochmal nachschenkt. Eine Woche später ist Krieg. Ups! Erdoğan zieht in die Schlacht – und der offenbar völlig perplexe ­Gabriel? Ist »besorgt«.

Wer meint, die Bundesregierung verhalte sich aus taktischen Gründen so gefällig, um Deniz zu helfen, missversteht die Lage. Sie hat auch kein Deniz-Yücel-Problem, sie hat, wie die Nato, das ­Problem, keine Strategie und keinen Plan für den Nahen Osten zu haben und schon gar nicht für den Umgang mit der Türkei.

Das Einzige, was sie hat, sind wirtschaftliche Interessen und schlechte Berater. In diesem außenpolitischen Hohlraum kann sogar eine Luftnummer wie Erdoğan gemütlich seine Trümpfe ausspielen. Gabriel hingegen musste sich korrigieren, die Panzer-Nachrüstung wurde jetzt doch vorläufig zurückgestellt, ansonsten herrscht Schweigen.

Und Deniz hockt weiter in Block neun der gewaltigen Gefängnisanlage in Silivri.
Er ist deswegen aber nicht »beleidigt«, nicht »in seiner Ehre verletzt«. Für so etwas ist er viel zu klug.