Die Debatte über die Rechtmäßigkeit von Fixierungen in der Psychiatrie

Herr im Hause

Eine Analyse der Debatte über die Rechtmäßigkeit von Fixierungen in der Psychiatrie zeigt: Die Macht der Ärzte zu beschneiden, ist richtig, aber nicht einfach.
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Ende Januar befasste sich erstmals das Bundesverfassungsgericht mit der Fixierung von Patienten in der Psychiatrie. Zwei Patienten aus Baden-Württemberg und Bayern hatten Klage eingereicht. Sie halten die an ihnen vorgenommene Fixierung ohne richterlichen Beschluss für nicht rechtens.

Bei der Fixierung werden Arme, Beine und Bauch, manchmal auch der Kopf, ans Bett gefesselt. Sie wird in Psychiatrien, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen praktiziert, wenn Menschen als akut selbst- oder fremdgefährdend eingeschätzt werden und Ärzte oder Pfleger keine andere Möglichkeit mehr sehen, beruhigend einzuwirken. Die Bedingungen und Entscheidungsbefugnisse für diesen gravierenden Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte sind in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Anlässlich der Verhandlung keimt wieder eine Debatte über psychiatrische Zwangsmaßnahmen auf. »Dürfen Ärzte Patienten die Freiheit entziehen?« fragte beispielsweise der Spiegel. Selbstverständlich dürfen sie das, muss darauf entgegnet werden. Sie tun es jeden Tag.

Es liegt in einer Eigenart dieser Institution begründet: Die moderne Psychiatrie bildete sich im 19. Jahrhundert an einer Schnittstelle zwischen Strafrecht und Medizin aus. Ob jemand bei abweichendem Verhalten in die Klapse oder den Knast gehört, entschied sich anhand der Frage nach der Schuldfähigkeit. Und diese Frage be­antworteten Ärzte. Ist die Handlung symptomatischer Ausdruck einer Krankheit oder Ergebnis eines freien Willens? Der Irre ist nicht Herr seiner Sinne und seines Willens. Der freie Wille ist jedoch Voraussetzung der bürgerlichen Rechtsprechung. Kein Rechts­subjekt zu sein, bedeutet das Glück, dem Strafvollzug entzogen zu werden, und das Pech, nicht in den Genuss bürgerlicher Rechte zu kommen und einem medizinischen System ausgeliefert zu werden. Psychiatrien waren die allermeiste Zeit nichts anderes als spezialisierte Gefängnisse. Was die Insassen der Anstalten vor allem auszeichnete, war nicht diese oder jene Krankheit, sondern die Gemeinsamkeit, entrechtet worden zu sein.

 

Die Frage ist, ob die Krankheit den Willen hinreichend beherrscht, um den Patienten oder andere vor den Folgen dieser Krankheit schützen zu müssen.

 

Heutzutage sieht das freilich etwas anders aus. Seit die westeuropäischen Länder ihre psychiatrischen Systeme nach dem Zweiten Weltkrieg reformierten – Westdeutschland übrigens erst ab 1975 –, gibt man sich Mühe, psychiatrische Stationen in Krankenhäusern möglichst offen und freundlich zu gestalten. Der Patient sollte den Idealen der Reformern zufolge von einem Objekt eines Kranken­haussystems, in dem man mit ihm umspringen konnte, wie man wollte, zu einem Subjekt werden, das für sich selbst entscheidet. Das hieß auch, den Insassen ihre Grundrechte zuzugestehen. Mittlerweile sind die meisten Patienten freiwillig auf offenen Stationen. Zwangsmaßnahmen haben sich nicht erledigt, sollen aber juristisch kontrolliert werden. So auch die Forderung der Kläger und die ­Meinung vieler Juristen wie etwa Heribert Prantl. In der Süddeutschen Zeitung mahnte er, Psychiatrie dürfe keine »Dunkelkammer des Rechts« sein. Einverstanden. Wie schwer dies aber in einer ­Institution zu gewährleisten ist, deren entscheidendes Merkmal eben darin bestand, Dunkelkammer zu sein, zeigt der Umgang mit Zwangsmaßnahmen.

Sicher, Unterbringungen gegen den Willen der Betroffenen müssen richterlich genehmigt werden. So steht es dieser Tage in allen Artikeln. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Da wird jemand im Streifenwagen in Begleitung des Krisendienstes zur Psychiatrie ­gebracht. Der zuständige Arzt hört sich die Geschichte an, spricht kurz mit dem wirren Menschen in Handschellen und verpasst ihm eine Diagnose – sofern er nicht zuvor schon eine bekommen hatte. Die akute Selbst- oder Fremdgefährdung ist die einzige ­juristische Legitimation für den Freiheitsentzug. Diese tatsächliche oder vermeintliche akute Gefährdung erschließt der Arzt jedoch nur aus den Schilderungen anderer.

Der Arzt soll medizinisch beurteilen, ob eine fortdauernde Gefährdung vorliegt, ohne je Zeuge ­einer Gefährdung gewesen zu sein. Die Frage ist, ob die Krankheit den Willen hinreichend beherrscht, um den Patienten oder andere vor den Folgen dieser Krankheit schützen zu müssen.

In einigen Bundesländern soll die Unterbringung innerhalb von 24 Stunden von einem Richter genehmigt werden. Oft reicht ein Anruf. Doch was kann der Richter da beurteilen? Natürlich verlässt er sich auf die Person vom Fach. Die Psychiatrie ist ein speziali­siertes System, das standardisierte Interpretationen der Situationen und entsprechende Maßnahmen gegen abweichendes Verhalten hervorbringt. Der Arzt hat nach wie vor faktisch die Macht, über freiheitseinschränkende Maßnahmen zu entscheiden, wenn er dem Patienten aufgrund einer Krankheit seinen freien Willen wissenschaftlich begründet abspricht und damit dessen Grundrechte ­einschränkt. Juristisch wird das Urteil des Spezialisten abgenickt, weil die neue Psychiatrie ja human sein soll.

Eine ähnliche Schwierigkeit juristischer Kontrolle ergibt sich bei der Fixierung: Der Patient schlägt vielleicht den Kopf gegen die Wand, will sich mit Scherben die Arme aufschneiden oder Gegenstände und Kot auf die Pfleger werfen, die ihn gefangen halten. ­Solche Situationen erfordern unmittelbares Handeln. Die juristische Beurteilung kann erst im Nachhinein erfolgen, wenn die Selbst- oder Fremdgefährdung gar nicht mehr akut ist. Richter können sich wieder nur auf die Erzählungen der Spezialisten verlassen oder die Patienten selbst anhören, wenn regelmäßige Fixierungen veranlasst werden. Wem jedoch größere Glaubwürdigkeit zuerkannt wird, dem studierten Spezialisten für »psychische Krankheit« oder dem, dessen gesunder Verstand wissenschaftlich in Zweifel ge­zogen wurde, lässt sich leicht beantworten. Die Macht der Ärzte zu ­beschneiden, ist richtig, aber nicht so einfach, da eine Funktion ärztlicher Gutachten gerade darin besteht, die normalerweise geltende juristische Vorgehensweise außer Kraft zu setzen.

Ein Urteil in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist erst in einigen Monaten zu erwarten. Freilich steht schon jetzt fest: Der Arzt bleibt der Herr im Hause Psychiatrie.