Víctor de Currea Lugo, Autor, im Gespräch über die Guerilla­gruppe ELN und deren Verhandlungen mit der kolumbianischen Regierung

»Niemand wird durch Zwang zum Revolutionär«

Víctor de Currea Lugo ist Professor an der Universidad Nacional de Colombia und hat die Friedensgespräche zwischen der Guerilla­gruppe Ejército de Liberación Nacional (ELN) und der kolumbianischen Regierung im ecuadorianischen Quito als Beobachter begleitet. Über die Verhandlungen sprach er mit der
Interview Von

Seit über einem Jahr finden die Friedensverhandlungen in Quito statt, bislang ohne Ergebnisse oder Fortschritte. Nach mehreren Bombenanschlägen und weiteren Attacken hat die Regierung die Friedensgespräche mit dem ELN Ende Januar ausgesetzt. Will die Guerillagruppe keinen Frieden?
Die Möglichkeit einer Verhandlungslösung ist seit 27 Jahren Teil des politischen Programms des ELN. Die Gruppe hat für die Gespräche von Quito eine sehr hochrangige Delegation ernannt, in langwierigen Sondierungsgesprächen ein Verhandlungsprogramm vereinbart und 2017 erstmals in ihrer ­Geschichte einem mehrmonatigen Waffenstillstand zugestimmt. Ich denke schon, dass sie es ernst meint mit dem Frieden. Aber für eine Guerillaorgani­sation ist es schwierig, Verhandlungen mit einer Regierung zu führen, die die Vereinbarungen mit der ehemaligen Guerilla Farc nicht einhält – mit dramatischen Folgen. Wichtige Teile des Friedensvertrags von Havanna werden nicht umgesetzt, mehr als 40 ehema­lige Farc-Kämpfer sind bislang ermordet worden, ebenso mehr als 100 soziale Aktivisten seit Dezember 2016. Das hat großes Gewicht für den ELN.

Mit ihren Offensivaktionen gefährden einige Gruppen des ELN jedoch immer wieder die Fortsetzung der Gespräche. Ist der ELN intern gespalten?
Die Spannungen innerhalb des ELN haben sich verstärkt. Jener Teil, der auf den Frieden setzt, hat intern an Zustimmung verloren. Es hat sich immer stärker eine sehr ideologisierte und militaristische Linie durchgesetzt, die die alten Schlachtrufe »Wir haben ­geschworen zu siegen« und »Nicht ein Schritt zurück. Revolution oder Tod« hochhält und die den Frieden als zweitrangig erachtet.
Die Organisationsstruktur des ELN ist im Gegensatz zu der der Farc sehr konföderal.

Was bedeutet das für die Geschlossenheit?
Manche Einheiten haben sich autonom gegründet und sich erst später dem ELN angeschlossen. Ende der siebziger Jahre gab es in Bogotá mehr als 30 Gruppen, die ihre Pamphlete oder Mitteilungen mit »ELN« unterschrieben, obwohl nur eine direkten Kontakt zum wirklichen ELN hatte. Der Prozess der Vereinigung, der in den achtziger Jahren begann und erst mit dem 5. Kongress Ende 2014 endgültig abgeschlossen wurde, hat den ELN viel Arbeit gekostet. Die erreichte Einheit will er nicht einem möglichen Frieden opfern.

Anfang der Woche hat der ELN nun einen mehrmonatigen und ein­seitgen Waffenstillstand zu den Parlamentswahlen am 11. März angekündigt. Reicht das, um die Re­gierung von Präsident Juan Manuel Santos, die nur noch bis August ­dieses Jahres im Amt ist, noch einmal zur Aufnahme der Gespräche zu bewegen?
Die Entscheidung des ELN für eine einseitige Feuerpause ist sicher förderlich. Aber sollte die Regierung die Gespräche wieder aufnehmen, von welcher Dauer werden sie dann sein? Bis der Waffenstillstand endet, der ELN zwei Polizistzen tötet und man wieder von vorne anfängt? Die zentrale Herausforderung ist nicht, sich wieder an den Verhandlungstisch zu setzen, sondern, dass es beiden Seiten an einer klaren langfristigen Strategie fehlt. Ein ehemaliger Kommandant der Guerilla M19 hat einmal gesagt: Das Problem ist nicht, dass sie uns alle umbringen, das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie man Politik macht. Diese Beschreibung finde ich auch für die derzeitige Situa­tion sehr zutreffend.

Wichtig ist der politische Triumph, nicht der militärische. Diesen Fehler, das Politische dem Militärischen unterzuordnen, begeht der ELN gerade. Er ist unfähig, den politischen Moment zu deuten, die Konsequenzen seiner militärischen Aktionen abzuschätzen und zuzuhören.

Wem sollte der ELN zuhören?
Den wenigen in der kolumbianischen Gesellschaft, die sich überhaupt für den Frieden interessieren: einigen Akademikern, Indigenenorganisationen, Kleinbauern und Afrokolumbianern, die den ELN auffordern, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, den Waffenstillstand zu verlängern, die Entführungen einzustellen. Der ELN aber hört nicht auf sie, obwohl er der »Meinung des Volkes« seit den achtziger Jahren große Bedeutung zugesprochen hat. Damals hieß die Losung »Das Volk spricht, das Volk befiehlt«, später »Großer nationaler Dialog«, und gleich der erste Punkt des Verhandlungsprogramms ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Warum dann diese Taubheit?
Das hat mit der strategischen Lesart der Situation zu tun. Wenn man einige neuere Schriften jener eher militaris­tischen Einheiten betrachtet, sind die in einer Sprache verfasst, die in den achtziger Jahren stehengeblieben ist. Hier findet eine grobe Vereinfachung der gesellschaftlichen Konflikte auf den Klassenkampf statt, eine Einteilung der Gesellschaft in Bourgeoisie und Proletariat, die weitergehende politische Forderungen von Indigenen, Kleinbauern, Afrokolumbianern oder Frauen verkennt und auf Machtübernahme durch den bewaffneten Kampf setzt. Dieser Lesart liegt der Denkfehler zugrunde, dass eine Vorgehensweise, die in der Vergangenheit zum Erfolg geführt hat, künftig auch in allen anderen Fällen zum Erfolg führen wird. Wenn das einzige Werkzeug, das man hat, ein Hammer ist, ist es verlockend, alles zu behandeln, als ob es ein Nagel sei.

 

 

 

Wie ist das Verhältnis der lokalen Bevölkerung zum ELN?
Das ist in den jeweiligen Regionen sehr unterschiedlich. In manchen Gebieten trifft man auf eine Gesellschaft, die im ELN eine Identität findet. Das sind ­keine Organisationen des ELN, sondern sie erkennen den ELN und dessen ­politischen Vorschläge als Autorität an. Es gibt andere Teile, die gelernt haben, mit dem ELN und seinen Regeln zu leben – eine passive Akzeptanz. Und es gibt Gesellschaftsteile, beispielsweise einige Indigene, die haben Angst vor ihm und fühlen sich bei dessen Präsenz nicht wohl. Diese Heterogenität gilt auch für den ELN selbst. Manche Einheiten sind sozialer orientiert, was das Verhältnis zu den Gemeinden betrifft, und hören ihnen zu, während andere Gruppen militärischer und damit vertikaler organisiert sind.

Warum schließen sich junge Menschen der Guerilla an?
Ein Aspekt ist, dass in Kolumbien Gewalt allgegenwärtig und Teil der politischen Kultur ist. Gewalt ist effizient und produziert ­unmittelbar Resultate. Zugleich ist Kolumbien eines der Länder der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit. In vielen Regionen Kolumbiens sind die Menschen enorm frustriert und dort wirkt eine Guerilla, die revolutionäre Sym­bolik, eine Identität und eine Waffe anbietet, auf Jugendliche sehr anziehend.

Es wird immer wieder kritisiert, dass der ELN Minderjährige rekrutiere.
Ich will nicht die Rekrutierung Minderjähriger rechtfertigen, aber sie ist ­keine Erfindung der Guerilla. Ich halte diese Praxis für äußerst fragwürdig, aber juristisch gesehen ist die Rekrutierung ab 15 Jahren vom humanitären Völkerrecht gedeckt. Für viele Kinder und Jugendliche ist die Guerilla Teil der gesellschaftlichen Realität und sie ­treten freiwillig ein, weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Aber wenn ich eine Gruppe Minderjähriger für das Erreichen einer besseren Welt einspannen will, gibt es meiner Ansicht nach bessere Wege, als ihnen eine Waffe zu geben. Es gibt da auch einen gewissen Opportunismus der Guerilla, die Verhältnisse auszunutzen, obwohl sie selbst kreativer sein könnte, wenn es um den Umgang mit Minderjährigen geht. Ausgenommen von dieser Einschätzung sind Zwangsrekrutierungen. Die sind absolut zu verurteilen und in einer Gruppe, deren Ziel die Revolution ist, auch nicht sinnvoll. Niemand wird durch Zwang zum Revolutionär.

Der ELN war früher kaum in den Drogenhandel verstrickt und verbot in von ihm kontrollierten Gebieten den Kokaanbau. Ist das heute immer noch so?
In einigen Regionen konnte man dies nicht durchsetzen, weil Koka Teil der kleinbäuerlichen Wirtschaft ist und man den Bauern ihre Lebensgrundlage entzogen hätte. Andererseits braucht der ELN natürlich Geld, und diese Notwendigkeit sorgt dafür, dass einige Einheiten oder einzelne Kommandanten besonders im Westen des Landes in den Drogenhandel eingestiegen sind, weil es ihnen ermöglicht, militärisch zu expandieren, Waffen zu kaufen etcetera. Der ELN fürchtet sich vor einem poli­tischen Verfall der Organisation, wie er bei den Farc zu beobachten ist, wo das Mittel zum Zweck wurde. Die Finanzierung durch den Drogenhandel beziehungsweise die Besteuerung des Anbaus führt zu Nachlässigkeit bei der politischen Ausbildung und einer Durchdringung der Organisation mit einer »Narcokultur«, kulturellen ­Praktiken und Formen, die wir in Kolumbien mit dem Drogenhändler und seiner Lebensweise assoziieren, etwa bestimmte Musik, Kleidung und die Zurschaustellung von Schmuck und teuren Autos.

Die Führung des ELN soll sich unbehelligt im Nachbarland Venezuela aufhalten, was dessen Beziehungen zu Kolumbien zusätzlich belastet. Welche Rolle spielt die »boliva­rische Revolution« in Venezuela für den ELN?
Der ELN ist kein Anhängsel des politischen Projekts von einst Hugo Chávez oder heute Nicolás Maduro. Die Präsenz der Guerilla in der Grenzregion ist viel älter als der erste Wahlerfolg der »bolivarischen Revolution«. Für zwei der militärisch stärksten Einheiten des ELN ist die Gegend heute ein strategisches Rückzugsgebiet, in dem sie sich mit einer gewissen Leichtigkeit be­wegen. In vielen Kommuniqués hat der ELN zudem seine Solidarität mit der »bolivarischen Revolution« zum Ausdruck gebracht, mit der er sich identi­fiziert. Darüber hinaus ist Venezuela einer der Garantiestaaten der Friedensgespräche und hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Dialog beginnen konnte. Alle diese genannten Gründe machen Venezuela zu einem wichtigen Faktor für den ELN, der, auch wenn es intern verschiedene Sichtweisen gibt, den Prozess in Venezuela unterstützt.