Die Debatte über rassistische Ausgrenzung bei der Essener Tafel geht am Kern des Problems vorbei

Keine Frage der Herkunft

Die Entscheidung der Essener Tafel, Menschen ohne deutschen Pass auszuschließen, stößt auf Kritik. Antifaschisten und Hartz-IV-Berater kritisieren eine mangelnde Bereitschaft zu einer ernsthaften Debatte über Rassismus und Armutsbekämpfung.

»Jedem bedürftigen Menschen wird unabhängig von seiner Herkunft, seinen Möglichkeiten und Grenzen mit Respekt begegnet; seine Würde wird geachtet.« So lautet das vom Dachverband »Tafel Deutschland e. V.« formulierte Leitbild, an dem sich die über 930 Tafeln in Deutschland orientieren sollen.

Die Essener Tafel hat damit gebrochen. Ihr Vorsitzender Jörg Sartor teilte Ende Februar mit, dass man seit einigen Wochen einen Aufnahmestopp für Nichtdeutsche bei der Lebensmittelvergabe verhängt habe. Nicht weil die Lebensmittel nicht ausreichten, sondern wegen des angeblich schlechten Benehmens vieler junger Migranten. »Vielleicht haben wir zwei Jahre Deutsche ausgeschlossen«, sagte Sartor bei einer Pressekonferenz. Ein diffuses Gefühl hatte ihn offenbar dazu verleitet, rassistische Diskriminierung in der Essener Tafel einzuführen.

 

So wichtig die Kritik an der rassistischen Praxis der Essener Tafel ist, so sehr geht die Debatte am Kernproblem vorbei.

 

Essens Sozialdezernent Peter Renzel (CDU) stand Sartor in der letzten Fe­bruarwoche bei: »Es geht darum, dass die Essener Tafel ihre Kernzielgruppen erreicht. Die Zielgruppen sind insbesondere die Seniorinnen und Senioren, die von Grundsicherungsleistung leben, und Alleinerziehende und Familien mit minderjährigen Kindern.« Migranten gehören Renzel und Sartor zufolge also nicht zur Kernzielgruppe. Dabei sagt das Leitbild des Dachverbands etwas anderes. »Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen – unabhängig von Herkunft, Kultur und Religion«, heißt es auch auf der Homepage der Tafeln.

Bei der antifaschistischen Gruppe »Antifa Essen Z« stößt die Entscheidung der Essener Tafel auf Kritik. »Zunächst einmal ist sie deshalb bedenklich, weil eine bestimmte Gruppe von potentiellen Nutzerinnen und Nutzern aufgrund von vermeintlichem oder tatsächlichem Fehlverhalten Einzelner pauschal und willkürlich von der Lebensmittelausgabe ausgeschlossen wird«, sagte die Gruppe auf Anfrage der Jungle World. Der temporäre Ausschluss erfolge nur und bewusst aufgrund der Staatsangehörigkeit – schließlich solle ein »aus­gewogenes Verhältnis« ­zwischen Deutschen und Ausländern wiederher­gestellt werden. »Wer aber diese Differenzierung ­vor­nimmt, begründet letztlich eine rassistische Praxis, weil er nicht mehr nach Hilfebedürftigkeit, sondern nur noch nach dem Pass auswählt«, so die Antifa Z.

 

»Wünschenswert wäre es, wenn sich der öffentliche Diskurs über die Entscheidung der Essener Tafel dahin gehend verschiebt, warum in einem wirtschaftlich so prosperierenden Land wie Deutschland überhaupt regelmäßig bis zu 1,5 Millionen bedürftige Personen auf Lebensmittelspenden durch die Tafeln angewiesen sind«

 

So wichtig die Kritik an dieser rassistischen Praxis ist, so sehr geht die Debatte am Kernproblem vorbei. Dieses Jahr verzeichnet die Tafelbewegung ihr 25jähriges Jubiläum. Der Duden bezeichnet ein Jubiläum als einen »festlich begangenen Jahrestag«. Ein Grund zum Feiern ist das Jubiläum der Tafeln jedoch nicht. Vielmehr ist es ein Indikator für das immer schlimmer werdende Armutsproblem. 15,8 Prozent der Menschen in Deutschland leben in Armut.

Jörg Bütefür organisiert seit vielen Jahren eine unabhängige Hartz-IV-Beratung in Essen. Die Entscheidung der Tafel kann er nicht nachvollziehen, sagte Bütefür der Jungle World: »Migranten werden pauschal bestraft, ohne dass der Einzelfall geprüft wurde. Das ist Sippenhaftung, ich finde das unsäglich.« Viele der Hartz-IV-Empfänger, die er berät, sind auch auf die Tafel angewiesen, Zugang dazu hätten aber nur wenige. »Es gab in Essen, soweit ich zurückdenken kann, immer weniger Karten als Bedürftige. Die Tafeln sind Teil eines Systems, dass vom Sozial- zum Almosenstaat übergeht. Das geht vor allem auf die Einführung von Hartz IV zurück«, kritisiert er.

Silke Lenz, Pressesprecherin der Stadt Essen, widerspricht dieser Einschätzung. »Die Versorgung von mittellosen Menschen wird in Deutschland durch das Sozialamt mit der Grundsicherung ­beziehungsweise durch das Jobcenter sichergestellt«, sagte sie der Jungle World. Die Lebensmittelausgabe der ­Tafel sei ein zusätzliches Angebot. Lenz fügte hinzu, dass es in Essen über 90 000 Berechtigte gebe, die »entweder SGB-II-Leistungen«, also Hartz IV, oder eine Grundsicherung bezögen. »Diese Menschen sind berechtigt, das Angebot der Essener Tafel in Anspruch zu nehmen.« Derzeit würden 16 000 der 90 000 Bedürftigen wöchentlich von der Tafel versorgt, so Lenz. Im Umkehr­schluss heißt das, dass 74 000 Bedürftige diese Hilfe nicht bekommen –  eine Zahl, die aufhorchen lässt.

Die Stadt versucht vor allem, die Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Im Ruhrgebiet sei dieses Problem in Essen, Duisburg und Gelsenkirchen am größten. 15 000 Menschen seien derzeit in Essen langzeitarbeitslos, so die Sprecherin der Stadt. Das sei vor allem auf den Strukturwandel zurückzuführen. Einfach zu erledigende Arbeiten seien weggefallen, die Menschen aber ­geblieben. »Heute ist das Anforderungsniveau auf dem Essener Arbeitsmarkt hoch, bestimmte Schlüsselqualifikationen sind notwendig. Zwei wichtige Trends beschäftigt heute fast jedes Unternehmen: die Automatisierung und die Digitalisierung«, sagt Lenz. Ein sozialer Arbeitsmarkt speziell für Essen soll nun weitere Abhilfe schaffen. Durch ein besonderes Programm für Langzeitarbeitslose sollten diese wieder ins Arbeitsleben integriert werden.

Aus Sicht Bütefürs ist das keine echte Lösung für die Probleme der Bedürftigen. Täglich werde er in seiner Arbeit mit verfassungswidrigen Maßnahmen der Jobcenter konfrontiert. »Der Regelsatz ist nach wie vor nicht auskömmlich«, bemängelt er. Leistungsabzüge gebe es etwa, wenn jemand ein Darlehen beim Jobcenter aufnehme. Auch bei Mietkautionen behalte das Jobcenter 40 Euro des Regelsatzes ein, trotz ­einer dagegen eingereichten Verfassungsklage, der vor vier Monaten stattgegeben wurde. »Das Urteil wird in ­Essen einfach ignoriert«, sagt Bütefür. Er fordert, dass der Regelsatz auf ein Maß angehoben werden müsse, das ein Leben ohne Tafel möglich macht. »Hartz IV muss grundsätzlich überdacht werden. Es darf nicht mehr systematisch an den Leistungen gekürzt werden«, findet er.

Ähnlich sieht das auch die Antifa Z: »Wünschenswert wäre es, wenn sich der öffentliche Diskurs über die Entscheidung der Essener Tafel dahin gehend verschiebt, warum in einem wirtschaftlich so prosperierenden Land wie Deutschland überhaupt regelmäßig bis zu 1,5 Millionen bedürftige Personen auf Lebensmittelspenden durch die Tafeln angewiesen sind«, so die Gruppe. Einerseits sei es gut, dass Bedürftige mit der Tafel eine Anlaufstelle haben, um mit gespendeten Lebensmitteln indirekt ihr Haushaltseinkommen aufzubessern. »Andererseits hat sich mit der Tafel ein zivilgesellschaftliches Hilfesystem institutionalisiert, das den Rückzug der sozialstaatlichen Existenzversorgung letztlich begünstigt beziehungsweise verschleiert. Die sozialpolitische Funktionsbestimmung der Tafel als Subsystem der gesellschaftlichen Versorgung – zusätzlich zum Sozialstaat – muss letztlich also auch kritisch gesehen werden«, so die Antifa Z.

Demnächst soll sich ein runder Tisch konstituieren, um vermeintliche und tatsächliche Probleme zu besprechen. Daran teilnehmen sollen neben Vertretern der Stadt und der Tafel auch Repräsentanten des »Essener Verbunds der Immigrantenvereine«, in dem rund 74 migrantische Organisationen vertreten sind. Ob es dabei allerdings um die Bekämpfung von Armut gehen wird, darf getrost bezweifelt werden. Sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als auch zahlreiche hochrangige SPD-Politiker hatten das Vorgehen der Essener Tafel kritisiert. Ankündigungen, im Rahmen der Neuauflage der Großen Koalition am Hartz-IV-System etwas grundsätzlich zu ändern, waren von keinem von ihnen zu vernehmen.