Santiago Arconada, Gewerkschafter und Umweltexperte, im Gespräch über die Präsidentschaftswahl und die Krise in Venezuela

»Jede Stimme gegen Nicolás Maduro zählt«

Am Sonntag, dem 20. Mai, findet in Venezuela die Präsidentschaftswahl statt. Viele Szenarien sind möglich, das einzige, was einen erneuten Wahlsieg von Nicolás Maduro ver­hindern könnte, wäre eine massenhafte Teilnahme an der Wahl, sagt der linke Gewerkschafter Santiago Arconada.
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Warum lehnen Sie die Politik von Präsident Nicolás Maduro ab?
Für mich begann der allmähliche Niedergang bereits 2007, als Hugo Chávez in seiner zweiten Amtszeit das übergeordnete Ziel des Sozialismus vorgab. Weil die 1999 begonnene Transformation nicht richtig ins Format passte und nicht das Wort sozialistisch enthielt, wurde dieser offene Ansatz durch das alte Konzept der Avantgarde ersetzt, die genau weiß, was als nächstes passiert. So sind wir in eine Situation geraten, in der wir überhaupt keine Richtung mehr haben.

Aber als Basisaktivist haben Sie noch 2014, nach dem Tod von Hugo ­Chávez, die Regierung beraten.
Bis zum 24. Februar 2016 hatte ich zwar eine kritische Haltung, dachte aber, dass es möglich sei, intern für Korrekturen einzutreten. Doch an jenem Tag hat Maduro ein Dekret unterzeichnet, das zwölf Prozent der Landesfläche dem Bergbau überantwortet. Dadurch wurde mir klar, dass die Regierung das im Laufe der Jahre geraubte Geld nicht wiederbeschaffen, sondern ­neues Geld aus dem Boden ziehen und den Erdölextraktivismus durch Berg­bau ersetzen würde.

Was meinen Sie genau, wenn sie von geraubtem Geld sprechen?
Die Regierungszeit von Maduro ist von einem moralischen Debakel gekennzeichnet. Er streitet sich mit dem früheren Erdölminister Rafael Ramírez öffentlich darüber, wer mehr Geld geklaut hat. Den vorsichtigsten Schätzungen zufolge sind unter der Herrschaft des Chavismus insgesamt 350 Milliarden US-Dollar durch Korruption und Veruntreuung von Devisen verschwunden. Allein davon hätte man zehn Jahre lang alle Venezolaner mit Lebensmitteln versorgen können. Stattdessen haben wir nun unterernährte Kinder und Krebspatienten, die keine Therapie bekommen, weil jede Hilfe als imperialistisch gebrandmarkt wird. Ohne die Veruntreuung von 350 Milliarden US-Dollar wären wir jetzt nicht in dieser Lage.

Trotz der schwierigen Situation, in der sich die meisten Menschen ­befinden, unterstützen noch immer schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung die Regierung. Wie ist das zu erklären?
Zunächst einmal ist es schwierig, den wirklichen Rückhalt der Regierung zu messen. Aber ein Faktor ist, dass die Regierung eine riesige klientelistische Struktur geschaffen hat, die nicht ­einmal verhehlt, dass sie klientelistisch ist. Mittels Bonuszahlungen an bestimmte Gruppen und staatlich subventionierte Lebensmittellieferungen werden direkt Wählerstimmen erpresst. Es beschämt mich, wenn ich im Staatsfernsehen ein junges Mädchen sehe, das in die Kamera sagt: »Präsident ­Maduro, danke für die Impfung.« Eine Impfung ist doch keine milde Gabe, sondern das Mädchen hat ein Recht darauf!

Jenseits der politischen Propaganda sind viele Menschen aber auf die ­Lebensmittellieferungen angewiesen, um sich inmitten von Wirtschaftskrise und Hyperinflation ernähren zu können.
Nur entfernt diese klientelistische Struktur die Menschen immer weiter davon, selbst über ihr Leben entscheiden zu können und mit ihrer eigenen Arbeit das zu verdienen, was sie brauchen. Ich glaube, dass langsam einige Leute begreifen, dass die Lebensmitteltüten für sie kein wirklich gutes Geschäft sind. Denn wenn ich mich von Tüte zu Tüte hangeln muss und kaum Möglichkeiten habe, Lebensmittel dazuzukaufen, weil die Preise so hoch sind, muss ich zwischendurch Hunger leiden. Alle Statistiken belegen, dass das durchschnittliche Körpergewicht der Venezolaner drastisch zurückgegangen ist.

Viele Chavistas machen für die Krise externe Faktoren verantwortlich und argumentieren, dass es nach der Präsidentschaftswahl am 20. Mai bergauf gehen wird. Zu Unrecht?
Die Anhänger der Regierung halten sich an einem Strohhalm fest. Niemand aus dem chavistisch gestimmten Teil der Bevölkerung sagt: »Das ist das, was wir wollten, davon haben wir geträumt, dafür haben wir damals ­Chávez auf der Straße verteidigt.« Wir sind nicht solidarisch, sondern ver­kaufen geklaute Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt. Das heißt, die Armen ziehen anderen Armen das Geld aus der Tasche. Die staatlichen Unternehmen liegen völlig am Boden, sei es in der Erdölförderung oder bei der Wasser- und Stromversorgung. Und ist daran der Imperialismus schuld? Oder hat es nicht eher mit klassischer Korruption und einer internen Struktur zu tun, die nicht fähig zur Selbstkritik ist? Wenn ich Menschen höre, die unsere Situation mit der Sonderperiode im Kuba der neunziger Jahre oder mit dem Wirtschaftskrieg in Chile gegen Salvador Allende in den Siebzigern ­vergleichen, empfinde ich das als Beleidigung. Denn dort sind nicht 350 Milliarden US-Dollar verschwunden. Aber hier schon!

Wer mit Maduro unzufrieden ist, wählt aber nicht gleich die rechte Opposition. Liegt das Problem also darin, dass es zu den Chavistas ­keine wirkliche Alternative gibt?
Im Moment hofft die Bevölkerung eher, dass der Niedergang gestoppt wird, als dass jemand kommt, der ­genau weiß, was für die Linke zu tun ist. Für mich geht es darum, bei der kommenden Wahl deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass ich nicht hinter diesem Mist stehe. Wenn genügend Leute genau das vermitteln, ist Maduro am Ende. Ich werde für den linksalternativen Kandidaten Reinaldo Quijada stimmen, auch wenn ich persönlich überhaupt keine Verbindung zu dessen Partei UPP 89 habe. Natürlich hat Qui­jada keine Chance, aber die Kandidatur eröffnet die Möglichkeit zu sagen, ich lehne die Korruption der Regierung strikt ab, aber warte auch nicht mit verschränkten Armen auf den Inter­nationalen Währungsfonds und die Dollarisierung, die Falcón (Henri Falcón, Präsidentschaftskandidat der wirtschaftsliberalen Partei Avanzada Progresista, Anm. d. Red.) angekündigt hat.

Welche Bedeutung hat die Präsidentschaftswahl überhaupt, wenn ein guter Teil der Opposition und der »internationalen Gemeinschaft« diese von vornherein ablehnt?
Eine große. Die rechten Parteiführer rufen zu Enthaltung auf, aber das heißt nicht, dass dem alle Oppositions­anhänger folgen werden. Die meisten, die Maduro loswerden wollen, werden für Henri Falcón stimmen, weil er bei dieser Wahl das Instrument für einen Regierungswechsel ist. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung wird allerdings das geschehen, was wir bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung im Juli vergangenen Jahres gesehen haben. Maduro wird Millionen Stimmen erhalten, ­obwohl kaum ­jemand ins Wahllokal gegangen ist. Das einzige, was einen Wahlbetrug ver­hindert, ist eine massenhafte Teilnahme. Ich bin mir absolut sicher, dass Maduro die Wahl verliert, wenn die Wahlbeteiligung bei über 60 Prozent liegt.

Wie geht es weiter, wenn Maduro doch gewinnt?
Der 20. Mai wird nicht das Ende der Welt darstellen. Ich bin auf alles vorbereitet, zum Beispiel darauf, dass ­Maduro das Ergebnis nicht anerkennt, falls er verliert. Dass er sagt, wegen des Wirtschaftskrieges sei keine freie Wahl möglich gewesen, deshalb möge die Verfassunggebende Versammlung doch bitte die Wahl annullieren. Wenn ich auf so etwas vorbereitet bin, bin ich auch auf einem Sieg Maduros vorbe­reitet. Aber wir dürfen nicht fatalistisch glauben, dass er sowieso gewinnt, weil die Opposition intern zerstritten ist, teilweise zum Wahlboykott aufruft und es keine Alternative gibt. Nein, wir müssen das aufbrechen. Deshalb zählt jede Stimme, die für einen anderen Kandidaten als Maduro abgegeben wird.

Wie auch immer es in Venezuela weitergehen wird, die verfeindeten politischen Lager müssen mittelfristig irgendwie miteinander auskommen. Wie soll das gehen?
Es muss, denn die Alternative dazu ist ein Bürgerkrieg. Das ist vielleicht das Einzige, das ich mit einem Venezolaner aus der Oberschicht gemeinsam habe: Wir beide wollen keinen Krieg. Das Verbindende muss die Verfassung von 1999 sein. Sie ist das Einzige, was heute kollektiv anerkannt wird. Das war nicht immer so, 2002 zerriss und verbrannte die rechte Opposition die »Magna Charta«. Doch 2007, als Chávez sie reformieren wollte, hat die Oppo­sition sie bereits verteidigt.

Der Chavismus ist weit mehr als nur die Regierung. Wie könnte die ­Zukunft der Bewegung aussehen, wenn Maduro nicht mehr an der Macht ist?
Wir haben viele Fehler gemacht. Wir haben es zugelassen, dass sich die ­Basisorganisationen in stalinistische Parteiorganisationen verwandelt haben. Auch ich selbst habe mich damals in die Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela, Anm. d. Red.) eingeschrieben. Wir haben die Korruption um uns herum gesehen und nicht ausreichend denunziert. Es steht also eine Phase der Selbstkritik bevor, um sich neu zu organisieren und die Partizipation der Bevölkerung ­wieder zu beleben. Wir müssen überlegen, was wir eigentlich wollten und was daraus geworden ist. Das aber kann nur gelingen, wenn der Chavismus nicht mehr an der Regierung ist.