Bernard Harcourt, US-amerikanischer Juraprofessor, im Gespräch über den Überwachungsstaat und die Militarisierung der Polizei

»Protest erscheint als Aufstand, der mit aller Macht unterdrückt werden muss«

Bernard E. Harcourt erklärt im Interview den Zusammenhang zwischen der »expositorischen Gesellschaft«, in der die Menschen sich der Preisgabe persönlicher Informationen im Internet kaum noch entziehen können, moderner Aufstandsbekämpfung und der Militarisierung der US-Polizei.
Interview Von

Ihr Buch »The Counterrevolution« ist im Februar erschienen und hat den provokanten Untertitel »Wie unsere Regierung gegen ihre eigenen Bürger in den Krieg zog«. Wie kamen Sie zu dem Thema?
Es entstand aus einem früheren Projekt, in dem ich die »expositorische Gesellschaft«, in der wir leben, untersucht habe. Es ging mir dabei um eine ­Theorie, wie Macht im digitalen Zeitalter zirkuliert. Von Guy Debord stammt die Idee der Gesellschaft des Spektakels, Michel Foucault hat diese Theorie auf den Kopf gestellt und das Paradigma einer panoptischen, bestrafenden Gesellschaft aufgestellt: Aus dem Spektakel wurde die Überwachung. Spektakel ist, wenn alle Personen einen beobachten. Panoptikum heißt, dass eine Person alle anderen beobachtet. Von Gilles Deleuze stammt der Begriff der Kontroll­gesellschaft.Im neuen digitalen Zeitalter mit all diesen verführerischen Plattformen – Facebook, Amazon, Google – geben wir nicht nur bereitwillig und lustvoll alle möglichen Informationen über uns diesen Firmen preis, sondern eben auch dem Sicherheitsstaat, der NSA und den ganzen anderen Geheimdiensten. Wir erleben heute ein neues Modell, das ich als »expositorische Gesellschaft« ­bezeichne, in der wir uns exponieren, bloßstellen und ausliefern. Oft geschieht dies freiwillig, manchmal gibt es etwas Widerstand, aber selbst wenn man sich widersetzt, liefert man Informationen und hinterlässt überall Spuren. Es ist unmöglich, ein Flugticket zu kaufen, ohne online zu gehen. All ­diese Handlungen hinterlassen irgendwo persönliche Daten.

Was ist Ihr persönlicher Zugang zum Thema?
Ich forsche und schreibe nicht nur, ich vertrete auch als Strafverteidiger im Bundesstaat Alabama Mandanten, ­denen die Todesstrafe droht. Ich bin also mit der bestrafenden Funk­tion des Staats in ihrer düstersten und brutalsten Form konfrontiert. Zugleich fiel mir auf, wie Über­wachung sich in Richtung einer frei fließenden, gleitenden Form der Überwachung bewegt hat, die gar nicht aufdringlich wirkt. Man merkt kaum, dass ­einem Google oder Amazon auf Schritt und Tritt folgt, außer durch Kleinig­keiten, wie hin und wieder personalisierte Werbung, die im Browser auftaucht. Aber man macht sich darüber kaum Gedanken. Ich konnte nicht ­verstehen, wie diese digitale Überwachung mit brutalen Aspekten wie Drohnenangriffen, unbefristeter Haft in Guantánamo oder Folter in Geheimgefängnissen zusammenhängt – all diese Formen des Exzesses, die man in den USA und anderswo erlebt hat, wobei mein Fokus auf den USA liegt. Es war der Kontrast zwischen diesen Formen der Überwachung, die so weich wirkten, und der Brutalität des war on terror, der mich überlegen ließ, welche Funktion darin die expositorische Gesellschaft einnimmt. In meinem neusten Buch habe ich versucht, all das zusammenzuführen. In diesem Sinne ist die expositorische Gesellschaft nur ein Teil dieser Form des ­Regierens. Sie wird in Verbindung gebracht mit totalem Informationszugriff, der sich einfügt in das Modell der counterinsurgency warfare, der Kriegsführung zur Aufstandsbekämpfung.

»Wir erleben heute ein neues Modell, dass ich als ›expositorische Gesellschaft‹ bezeichne, in der wir uns exponieren, bloßstellen und ausliefern.«

Was ist mit »counterinsurgency warfare« gemeint?
Das ist eine Form der Kriegsführung, die es schon länger gibt, die aber in den fünfziger und sechziger Jahren verfeinert und weiterentwickelt wurde – von den Franzosen in Indochina und Algerien, von den Briten in Malaysia und anderswo, von den US-Amerikanern, als sie anfingen, in Südostasien und Vietnam zu intervenieren. Sie unterscheidet sich von der klassischen Form der groß angelegten Feldschlachten, wie wir sie noch aus den Weltkriegen kennen. Man reagierte mit einer sogenannten unkonventionellen Kriegsführung auf die Guerillakriege, wie sie in ­Indochina und Algerien geführt wurden. Es ist eine radikal andere Form der Kriegsführung.

Inwiefern?
Es läuft nicht auf eine Feldschlacht hinaus, sondern die Kombattanten ver­folgen mikrostrategische Taktiken, wobei es eine wichtige psychologische Komponente sowohl in Bezug auf die jeweilige aufständische Bevölkerungsgruppe als auch auf die Gesamtbevölkerung gibt. Die Idee basierte auf Mao Zedongs Theorie der revolutionären Kriegsführung, die noch einmal radikalisiert wurde. Die Theoretiker der Aufstandsbekämpfung nahmen Maos ­Theorie und verwendeten sie für ihre Zwecke.

Die Revolutionäre sollen sich wie Fische im Wasser bewegen – also entzieht man den Fischen das Wasser?
Genau. Sie basiert auf der Vorstellung ­einer dreigeteilten Gesellschaft. Da ist auf der einen Seite eine Minderheit an Aufständischen, auf der anderen Seite eine kleine Gruppe der counterinsurgency, die den Aufstand niederschlagen will, und in der Mitte ist die große Mehrheit der passiven Massen, die im Prinzip in die eine oder die andere Richtung beeinflussbar sind. Wenn man die Gesellschaft einmal so auffasst, führt das zu bestimmen Strategien. Das sind wiederum drei: Die erste ist totale Informationskenntnis, und die ist es, die die expositorische Gesellschaft heute zur Verfügung stellt; sie soll darüber Auskunft geben, wer Teil dieser aktiven Minderheit der Aufständischen ist und wer Teil der passiven Mehrheit. Die zweite Strategie ist, die Gruppe der Aufständischen brutal zu bekämpfen, mit Hilfe von Folter und physischer Eliminierung. Die dritte ist der Versuch, die »Herzen und Köpfe« der passiven Massen zu gewinnen.

In den USA konnte man seit den Anschlägen vom 11. September 2001 be­obachten, wie es auf militärischer Ebene eine Wende hin zu counterinsurgency-Strategien gab, sie wurden zur vorherrschenden Form der Kriegsführung. In einer zweiten Phase konnte man beobachten, wie dieses Modell auch immer mehr die Außenpolitik dominiert, etwa mit der Verwendung von Drohnen in Gegenden, in denen gar kein Krieg geführt wird; oder die totale Informationskenntnis über Vorgänge in der gesamten Welt. Schließlich kam dieses Modell zurück »nach Hause«, um auch im Inneren angewandt zu werden, in Form der Überwachung von Moscheen in New York City bis hin zu den milita­risierten Reaktionen auf die Proteste in Ferguson oder Baltimore. Dazu gehört auch die Bearbeitung der »Herzen und Köpfe« der US-amerikanischen Bevölkerung.

Wir sprachen von einer neuen Art der Kriegsführung, die im Grunde Formen der Polizeiarbeit annimmt. Eine Bevölkerung überwachen, die Störer ausfindig und unschädlich machen, das sind doch klassische Polizeiaufgaben. Es findet eine Art Kreisbewegung statt, bei der zunächst das Militär der Polizei ähnlicher wird und dann aber auch die Polizei dem Militär, aber eben in Form des hochspezialisierten Militärs, nicht der großen Rekruten­armeen aus der Zeit der Feldschlachten. Geht es bei der Militarisierung nicht vielmehr um eine Verwischung der Unterschiede zwischen Polizei und Militär?
Das Verhältnis von Militarisierung und Polizeiarbeit ist komplex. Es reicht ­historisch weit zurück vor die eingangs beschriebene Zeit der Weiterentwicklung der Aufstandsbekämpfung. Im Algerien-Krieg sahen die Franzosen die brutalen Formen der Befragungen unter Folter als Methoden der Polizeiarbeit. In der Armee gab es zunächst ­beträchtliche Widerstände dagegen, weil die Militärangehörigen der Auf­fassung waren, dies sei nicht das, was das Militär tut: Kriegsgefangene dürfen nicht gefoltert werden und Krieg richtet sich nicht gegen die Zivilbevölkerung. Diese Methoden wurden dem Militär von Polizeieinheiten beigebracht, weil das etwas war, das traditionell in den Bereich polizeilicher Befragungen fiel. Die Beeinflussung geht also in beide Richtungen.

Aber was wir seit 9/11 in den USA beobachten können, ist eine Militarisierung der Polizei in folgendem Sinne: Weil so viel ungenutzte militärische Ausrüstung aus den Zeiten des Irak-Kriegs übrig ist, sind inzwischen die ­Polizeiämter damit überflutet. Man muss sich nur die Polizeieinheiten in Ferguson und St. Louis ansehen, die nutzen beim Einsatz gegen Demons­trierende schwere militärische Aus­rüstung. Sie tragen Sturmgewehre und Körperpanzer und fahren Panzer­wagen. Sie sehen aus wie US-Soldaten in einem Schützengraben in Afghanistan. Das ist eine Folge dieser komplexen Wechselbeziehung. Es bedeutet, dass die Polizeiarbeit in den USA in vielen Bereichen militärischen Aktionen gleicht.