Ein Video über Kindesentführungen führte in Indien zu Lynchmorden

Lynchmord nach Falschmeldungen

In Indien haben gewalttätige Mobs nach Falschmeldungen über vermeintliche Kidnapper bereits mehrere Menschen getötet. Die Politik der hindunationalistischen Regierung begünstigt solche Formen von Gewalt und Selbstjustiz.

Der Ausflug kostete sie das Leben. Nilotpal Das und Abhijit Nath besuchten am 8. Juni im nordindischen Bundesstaat Assam einen Wasserfall in Kang­thilangso. Auf dem Rückweg durch das Dorf Panjuri in der Gemeinde Karbi Anglong wurden die beiden jungen Männer von einem Mob von rund 100 Menschen aus ihrem Auto gezerrt und totgeschlagen. Ein Anwohner, mit dem die beiden am Wasserfall einen Streit hatten, behauptete den Ermittlern zufolge, die beiden Männer seien Kidnapper, und hatte so die Menge gegen sie aufgebracht.

Das war kein Einzelfall. Seit Monaten zirkuliert in indischen sozialen Me­dien ein Video, das angeblich zeigt, wie zwei Männer auf einem Motorrad ein Kind entführen; begleitende Textnachrichten warnen vor der Ankunft von Kidnappern. Es handelt sich dabei um die gekürzte und verfälschte Version des Videos einer pakistanischen Kampagne, die sich tatsächlich gegen Kindesentführung richtet – im Originalvideo folgt allerdings eine Aufklärungstafel. Als vermeintlich dokumentarische Aufnahme hat es über Whatsapp seinen Weg nach Indien gefunden. Seit Ende April sind dort mindestens neun Menschen, meist Ortsfremde, in Zusammenhang mit dem verfälschten Video gelyncht worden, da sie für Kidnapper gehalten wurden.

Doch schon zuvor ist es in Indien immer wieder zu Lynchmorden gekommen. Das Trackingprojekt Indiaspend zählt 83 Vorfälle seit 2010, die insgesamt 33 Menschenleben gekostet haben. Auffällig ist, dass 78 dieser Angriffe in die Zeit nach 2014 fallen.

Damals gewann die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) mit rechtspopulistischer Rhetorik bei den nationalen Wahlen die absolute Mehrheit und Narendra Modi wurde Premierminister. 80 Prozent der in­dischen Bevölkerung sind Hindus. Die BJP gilt als parlamentarischer Arm der Sangh Parivar, einer Dachorganisation hindunationalistischer Organisationen, von politischen Lobbystrukturen bis zu paramilitärischen Gruppen. Der politische Aufstieg der BJP war immer wieder von gewaltsamen Ausschreitungen gegen Andersgläubige begleitet.

Nach dem Regierungsantritt Modis nahmen zunächst vor allem Angriffe und Lynchmorde sogenannter Kuhschützer zu. Da Kühe im Hinduismus als unantastbar betrachtet werden, sind es traditionell religiöse Minderheiten wie ­Muslime und im Kastensystem Unterprivilegierte wie Dalits, die den Handel mit Rindfleisch und die Schlachtung übernehmen. Oft reicht die Behauptung, eine Person habe Kühe geschmuggelt, gegessen oder geschlachtet, um den hindunationalistischen Mob anzuheizen. In einigen Bundesstaaten waren das Schlachten von ­Kühen und der Verzehr von Rindfleisch bereits vor 2014 verboten, die BJP-Regierung verschärfte allerdings die Strafen und bestärkte die gewalttätigen »Kuhschützer« mit ihrer Politik. Die Gesetzgebung bleibt umstritten, doch die Regierung bedient sich nichtstaat­licher Mittel zu deren Durchsetzung.

Da die Zahl der Polizisten in Indien zu niedrig für umfassende Kontrollen ist, setzte die Regierung »ehrenamtliche Tierwohloffiziere« ein, de facto staatlich sanktionierten Bürgerwehren, in denen sich militante Hindunationalisten sammeln.

Nach den Lynchmorden wegen Falschmeldungen über Kidnapper versuchen die Behörden, mit Aufklärungskampagnen und Aufrufen an die Bevölkerung die Situation zu be­ruhigen, und beobachten Inhalte in sozialen Medien stärker. Aber die ­Videos zirkulieren weiter. Viele Inder und Inderinnen haben erst durch Smartphones Zugang zum Internet erhalten. »Gerade in ländlichen Gegenden werden die Menschen mit Informationen überschwemmt, sie können reale und falsche Meldungen nicht ­unterscheiden«, sagt Pratik Sinha, der Gründer der fact checking-Seite Altnews, der BBC. Als Reaktion auf die jüngsten Vorfälle kam es in mehreren indischen Städten zu Protesten gegen die Regierung. Ihr wird vorgeworfen, Ressentiments anzuheizen und so mitverantwortlich für die Lynchmorde zu sein.

Die Regierung zeigte sich schockiert über den Angriff in Assam und setzte regionale Sonderpolizeibeamte ein. 62 Menschen wurden im Zusammenhang mit den Morden an Das und Nath inzwischen verhaftet. Um politische Zugeständnisse hat sie sich bisher aber gedrückt.