Für Präsident Erdoğan steht bei den türkischen Wahlen viel auf dem Spiel

Wählen im Ausnahmezustand

Kurz vor den vorverlegten Wahlen in der Türkei muss sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch einmal richtig ins Zeug legen. Sein Ziel ist die mit der Wahl verbundene Einführung des Präsidialsystems.

»Wohlstand, Freiheit und Frieden stehen in der Türkei kurz bevor, lasst uns im Rosengarten der Politik besoffen werden«, spottet der Karikaturist Baha­dır Boysal in einer seiner bissigen Kolumnen in der Satirezeitschrift LeMan. Der Präsidentschaftswahlkampf in der Türkei bringt erstaunliche politische Kapriolen hervor. Die im Ausland sitzende und in der Türkei gesperrte Nachrichtenplattform Ahval berichtet in einer Serie von Online-Beiträgen mit der Überschrift »Angesichts der Wahlen« über verlogene Wahlversprechen, die Behinderung des Wahlkampfs der Opposition und die Verwirrung der Wähler. Bis auf die linke prokurdische Demokratiepartei des Volkes (HDP) versprechen alle Parteien der seit zwei Monaten von der Inflation gebeutelten Bevölkerung Wohlstand und Fortschritt. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) proklamiert im Chor mit ihrer Koalitionspartnerin, der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), ungeachtet der ruinösen Auslandsverschuldung der Türkei eine Fortführung der großen Bauprojekte als Garant für Stabilität. Der Oppositionsführer Muharrem İnce, von der Republikanischen Volkspartei (CHP), verspricht eine unabhängige Wirtschaft und eine sozialere Arbeitswelt.

Der dramatische Wertverlust der Lira in den vergangenen Monaten und die hohe Inflationsrate von elf Prozent haben die Wirtschaft für die meisten Menschen zu einem wichtigen Thema werden lassen. Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegen die türkischen Auslandsschulden bei rund 50 Prozent der Wirtschaftsleistung. Mit einer schwachen Lira und steigenden Zinsen scheint eine Schuldenkrise direkt bevorzustehen.

Diesen gordischen Knoten könne keine Koalition lösen, fürchtet Mükremin Tokmak, Historiker im zentral­anatolischen Avanos und Anhänger der HDP. »Es gibt zwei Koalitionen bei den Wahlen: eine ist für den starken Präsidenten, die andere für eine starke Na­tion. Beide sind nationalistisch. Die Partner des Präsidenten sind faschistoid, aber auch die oppositionelle Seite ist ultrarechts.« Tokmak hat sich aus der aktiven Politik zurückgezogen, nachdem ein Mob aus Anhängern von AKP und MHP vor drei Jahren vor seiner kleinen Pension aufmarschiert war und ihn als Vaterlandsverräter beschimpft hatte. Die Wut über den Erfolg der HDP bei den Parlamentswahlen 2015, der die absolute Mehrheit der AKP verhinderte, war maßlos gewesen. Für die kommenden Präsidentschaftswahlen sieht Tokmak schwarz. Für ihn ist auch Meral Akşener, die Parteiführerin der İyi Parti (Gute Partei), nur ein Wendehals. Sie war in den neunziger Jahren als Innenministerin erbarmungslos im Umgang mit brodelnden Minderheitenkonflikten.

»Es gibt zwei Koalitionen bei den Wahlen: eine ist für den starken Präsidenten, die andere für eine starke Nation. Beide sind nationalistisch.« Mükremin Tokmak, Historiker

Als sie sich ein politisches comeback versprach, trat sie erst der AKP, später der MHP bei. Die wichtigsten Politiker der İyi Parti entspringen einer Spaltung der MHP und vertreten den gleichen politischen Hardlinerkurs. Doch auch sie haben angekündigt, die Verfassungsreform rückgängig zu machen, sollten sie gewählt werden. Im April 2017 stimmte eine knappe Mehrheit der türkischen Wähler für die Verfassungsänderung, sie soll nach der Wahl am 24. Juni in Kraft treten. Der türkische Staatsrechtler Murat Sevinç warnte bereits in der Jungle World  vor den weitreichenden Folgen: »Die Ermächtigung des Präsidenten, Dekrete zu erlassen, kann der legislativen Funktion des Parlaments widersprechen. Insbesondere diese Ermächtigung ist kritisch zu betrachten; wir wissen nur zu gut, wozu Artikel 48 der Weimarer Verfassung in Deutschland geführt hat.«

Die Eskalation der Gewalt, die Bombenanschläge von 2015 und 2016 und die politische Repression nach dem versuchten Militärputsch haben den Tourismus in der anatolischen Region Kappadokien fast zum Erliegen gebracht. Nach der Vertreibung der Minderheiten in den vergangenen 50 Jahren ist die Politik Kappadokiens immer konservativ geprägt geblieben. In den meisten Kommunen sitzen Bürgermeister der MHP.

Tokmak führt im Rahmen seiner politischen Arbeit einen schwierigen Kampf zur Erhaltung der historischen Bausubstanz der Region. Alte Wohngebiete werden derzeit systematisch abgerissen und durch Hochhäuser der türkischen Wohnungsbaugesellschaft Toki ersetzt. Doch die Hälfte der Wohnungen darin stehen leer. Die 100 000 syrischen Flüchtlinge, die als Wanderarbeiter in die Region gekommen sind und die in der Landwirtschaft arbeiten, können sich die Toki-Wohnungen nicht leisten.