Ein Gespräch mit Philipp Lenhard, Herausgeber der Schriften Friedrich Pollocks

»Er hat gesagt, wohin die Reise geht«

Friedrich Pollock, dem Adorno und Horkheimer ihre »Dialektik der Aufklärung« widmeten, war eines der unbekannteren Mitglieder des Instituts für Sozialforschung. Seine Schriften werden jetzt neu aufgelegt. Die »Jungle World« sprach mit dem Herausgeber.
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Deine Einleitung zum ersten Band der Gesammelten Schriften von Friedrich Pollock trägt den ­Titel »Friedrich Pollock und der ›westliche Marxismus‹«. Der ­Begriff wurde vor allem von Perry Anderson international bekannt gemacht, der in seinem gleich­namigen Essay die Einheit von Theorie und Praxis betont, ein ­Zusammenhang, der im »westlichen Marxismus« eher kritisch hinterfragt wurde. Wie würdest du Pollocks Position innerhalb dieser Denkrichtung bestimmen, und was kann das Editionsprojekt leisten?
Das Gesamtprojekt »Pollock« verfügbar zu machen, ist durchaus dem Umstand geschuldet, dass Pollock eine vergessene Figur ist, und besonders eben eine vergessene Figur der kritischen Theorie. Das Anliegen ist also, ihn sichtbar zu machen sowie seinen Einfluss auf andere, bekanntere Denker der kritischen Theorie wie Adorno, Horkheimer, aber auch zum Beispiel Marcuse und einige ­andere. Wenn man diesen Weg wählt, sich über Pollock die kritische Theorie anzugucken, erhält man einen anderen Blick auch auf die kritische Theorie selbst.

Pollock ist wirklich derjenige der Frankfurter Schule, der sich am besten mit Marx ausgekannt hat und der eben sowohl zum »westlichen Marxismus« gehörte als auch zur Tradi­tion des Marxismus. Der erste Band der Werkausgabe zeigt das bereits ganz gut, denn er enthält die Texte aus der »marxistischen Phase« bis 1933, wo man sehen kann, dass Pollock eben diesen Weg des »westlichen Marxismus« verfolgt hat, der, und da kann man Perry Anderson ­zustimmen, eine Reaktion darauf war, dass die Revolution von 1918 / 19 ­gescheitert war, und auch die Revolutionen vorher gescheitert waren.

Pollock hat schon sehr früh gesehen, dass das Proletariat sich nicht als revolutionäres Subjekt entpuppt. Daraufhin hat er sich, wie viele ­andere von diesen »westlichen« Marxisten, die Frage gestellt: Was bedeutet das eigentlich für die Marx’sche Theorie? Für ihn bedeutete es, dass man sich die Grundkategorien der politischen Ökonomie wieder ansehen muss, dass man sie rekonstruieren und sie ernst nehmen muss, und er hat sich dabei bewusst auf den Marx des »Kapitals« bezogen, anders als beispielsweise Marcuse, der ja sehr begeistert war von den Frühschriften, was bei Pollock überhaupt nicht zu finden ist.

Es gibt also einen Riss in der Marx-Rezeption, der durch die kritische Theorie, durch die Frankfurter Schule hindurchgeht, wobei Pollock sich vielleicht am deutlichsten von allen auf das »Kapital« und die »Grund­risse« konzentrierte, und Marcuse am anderen Ende zu finden ist. Dieser erste Band zeigt also die marxistischen Ursprünge des Instituts für ­Sozialforschung und ist gleichzeitig der Auftakt für die weiteren Bände, in denen man sieht, wie Pollock sich davon auch wieder wegbewegt. Er hat sich mit anderen Themen beschäftigt, aber immer auf der Grundlage der vorangegangen Arbeiten.

Pollock hat sich intensiv mit der sowjetischen Planwirtschaft befasst. Wie verhält sich diese Arbeit zu der späteren Untersuchung Marcuses mit dem Titel »Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus«? Lässt sich der Riss, von dem du sprichst, auch hier im Vergleich erkennen?
Pollock hat sich in seiner Habilitationsschrift, die im zweiten Band enthalten sein wird, sehr genau mit dem sowjetischen Wirtschaftssystem auseinandergesetzt, immer mit der Frage im Hinterkopf, wie sich eine sozia­listische Planwirtschaft eigentlich umsetzen lässt. Das war eine Frage, die ihn sein ganzes Leben lang ­beschäftigt hat, und er war einer der ersten, die sich das in der Sowjetunion sehr genau angesehen haben. Er wurde zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution in Moskau eingeladen, ausgerichtet vom Marx-­Engels-Institut. Dort hat er das ­Wirtschaftssystem studiert, vielfältige Kontakte geknüpft, und sozusagen empirisch – wirtschaftswissenschaftlich könnte man sagen – versucht, die Frage zu beantworten: Wie machen die das? Wie organisieren die das? Wo sind Probleme? Wo sind Engpässe?

Das Ergebnis war dann schließlich diese Studie, in der er in der Ein­leitung bereits ein zweites Buch ankündigt, das sich eher mit theoretischen Fragen beschäftigen sollte. Das hat er nie geschrieben, und Marcuse hat das gewissermaßen übernommen, und tatsächlich hat Pollock Marcuse auch immer Literaturtipps und Hinweise gegeben. Und man darf natürlich vermuten, dass Marcuse diese Habilitationsschrift auch ge­lesen hat, wobei er ihn nicht zitiert, aber das hat Marcuse sowieso bis auf wenige Ausnahmen vermieden, obwohl er sehr stark auch durch ­Pollock geprägt war. Der historische Kontext ist freilich ein anderer, das Buch von Pollock ist 1929 erschienen und das von Marcuse im Kontext der fünfziger Jahre und des Kalten Kriegs. Der Bezug ist dennoch da, man kann aber feststellen, dass Marcuse und Pollock sich während des Kalten Kriegs uneins waren, wie die Sowjetunion zu bewerten sei.

 

»Ich bin der Ansicht, dass man die bekannteren Denker der kritischen Theorie besser versteht, wenn man Pollock kennt. Seine Aufgabe war immer zu sagen, »wohin die Reise geht«, wie Horkheimer das ­formulierte, also die ökonomische Entwicklung auf den Punkt zu bringen und damit auch die Grundlage zu bilden, auf der die anderen philosophischen, kulturwissenschaftlichen oder ideologiekritischen Studien entstehen konnten.«

 

Liegt darin auch ein Schlüssel für die Rezeptionsgeschichte, die Pollock ja ein wenig unter den Tisch fallen ließ? Welche anderen Gründe siehst du dafür, dass Pollock in Vergessenheit geriet?
Ein Grund ist sicherlich, dass die Bücher und Aufsätze, die Pollock ­geschrieben hat, schwerer zugänglich sind als philosophische oder kulturwissenschaftliche Untersuchungen, weil er aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive an diverse Phänomene heranging. Für Marxisten ist das Fachvokabular, das er da benutzt, relativ gut zu verstehen, dennoch ist es nicht gerade populär. Auch sprachlich hatte er einen sehr nüchternen Stil, wenig polemisch, mit der Ausnahme der Kritik an dem Volkswirt und Hitler-Unterstützer Werner Sombart.

Der zweite Grund ist tatsächlich er selbst. Er war in Bezug auf seine ­intellektuelle Arbeit unglaublich bescheiden. Für ihn war Horkheimer immer der große Denker, und er, Pollock, sah sich nur in dessen Dienst stehend. Er hat sich immer zurückgenommen und wollte nie im Vordergrund stehen, er hatte überhaupt kein Geltungsbedürfnis.

Ein dritter Punkt, der ganz wichtig ist, wenn wir über die heutige Zeit reden – denn das war nicht immer so –, ist die stark von der Achtundsechziger-Generation geprägte ­Geschichtsschreibung über die Frankfurter Schule. Da hat Pollock keine Rolle gespielt, erstens weil er sich von den politischen Bewegungen dieser Zeit ferngehalten hat, zweitens weil er auch wenig präsent war, da er nach 1945 eigentlich als Ziel hatte, diese doppelte Gelehrtenexistenz mit Horkheimer abseits der Akademie zu leben und sich zurückzu­ziehen aus der politischen Sphäre. Damit war er für die Achtundsech­ziger natürlich völlig uninteressant. Es gibt allerdings einige bemerkenswerte Bezugnahmen auf ihn, wie beispielsweise bei Hans-Georg Backhaus.

Grundsätzlich war Pollock in den späten fünfziger beziehungsweise den frühen sechziger Jahren bekannter. Er hat in dieser Zeit Studien zur Automatisierung durchgeführt, das daraus resultierende Buch ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und in großer Auflage erschienen, im Radio und in der Zeitung wurde darüber berichtet. Auch in den USA war er bekannter, es gibt Übersetzungen seiner Schrift zur Landwirtschaft oder seines Berichts zum Gruppenexperiment.