Artan Sadiku, albanischer Sozialwissenschaftler, im Gespräch über die Rolle Albaniens in der Flüchtlingspolitik der EU

»Es gibt keine neue Balkan-Route«

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Interview Von

Wie bewerten Sie die EU-Politik gegenüber dem westlichen Balkan?
Die EU-Politik gegenüber dem gesamten westlichen Balkan war von Anfang an unfair. Es kam erst spät zu einer Lockerung der EU-Visumsrestriktionen. ­Kosovaren müssen noch immer ein Visum beantragen, wenn sie in den Schengen-Raum reisen wollen, welches sie oft nicht bekommen. Das ist die größte Ungerechtigkeit in Europa. Wir haben kleine Staaten mit geringen ­Kapazitäten, um die Standards zu erreichen, die gefordert werden. Die EU macht es immer schwieriger für diese Staaten, der EU beizutreten. Ich glaube, es wäre die bessere Strategie, die Länder beitreten zu lassen, und dann daran zu arbeiten, dass sie die EU-Standards erfüllen, wodurch auch der Lebensstandard der Bevölkerung stiege. Dann hätten die Länder nämlich auch Zugang zu den EU-Mechanismen – sprich zu mehr finanzieller Hilfe, mehr ­Expertise, mehr Erfahrung und technischer sowie wirtschaftlicher Unterstützung. Außerhalb der EU werden die Länder des westlichen Balkans niemals auf diesen Standard kommen.

Ist es realistisch, dass Albanien in den kommenden 15 Jahren EU-Mitglied wird?
Ich glaube, es ist realistisch, weil die sogenannte Flüchtlingskrise uns zeigt, dass ohne enge Kooperation mit den Ländern des westlichen Balkans keine EU-Politik machbar ist.

Was sollte die EU in der Flüchtlingspolitik mit Blick auf Albanien ­ändern?
Für die EU und den westlichen Balkan wäre es besser, ein anderes Modell zu finden, um die sogenannte Flüchtlingskrise zu handhaben. Die EU darf Albanien nicht zum Müllabladeplatz für Flüchtlinge machen. Damit sendet Europa falsche Zeichen im Bezug auf die Wertschätzung von Flücht­lingen und der Länder des westlichen ­Balkans.  

Edi Rama betonte, dass Albanien ­bereit sei, eine faire Anzahl von Geflüchteten aufzunehmen. Warum tut er das?  
Die amtierende Regierung unter Rama versucht, sich als die progressivste ­Regierung des westlichen Balkans darzustellen. Rama persönlich ist dies ein Anliegen, seit er das Land regiert. Er will zeigen, dass Albanien ein gleichwertiger Partner ist, wenn die EU versucht Krisen zu meistern, um den Integrationsprozess voranzubringen. Die Erklärung von Rama ist ein Versuch, der EU zu sagen, dass Albanien, als eines der schwächsten Länder Europas in wirtschaftlicher und institutioneller Hinsicht, bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Damit kann er, als Musterschüler, auch auf andere Regierungen in der EU deuten und sagen, dass Albanien besser kooperiert als Länder, die bereits in der EU sind. Damit will er die Beitrittsgespräche voranbringen.

Rama gibt sich als lockerer und weltoffener Künstler, der mit Sneakers zu internationalen Konferenzen kommt. Ist das ein realistisches Bild von ihm?
Es gibt eine Diskrepanz zwischen seinem öffentlichen Auftreten und der Realität. Er will zeigen, dass Albanien ein weltoffenes Land ist, das Fortschritte erzielt hat. Das Auftreten von Rama steht aber in krassem Gegensatz zum Lebensstandard der meisten Menschen in Albanien. Seit er im Amt ist, hat sich an dem Lebensstandard nicht viel gebessert, und die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze ­leben, ist auch nicht zurückgegangen. Rama hat es geschafft, die Reputation Albaniens auf internationalem Parkett zu verbessern; er hat es aber nicht ­geschafft, die Lebenssituation der Menschen in Albanien zu verbessern. Die Gefahr ist, dass die Unzufriedenheit in Albanien immer größer wird, Rama aber trunken vom Lob aus der ganzen Welt ist und das deswegen nicht ernst nimmt.