Mit dem Einstellen von »Intro« und Viva stirbt ein großer Teil der Popkultur

Pop oder Verzweiflung

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Diese Poplethargie mag der Liberalisierung der Gesellschaft unter kapitalistischem Vorzeichen geschuldet sein. Diese führt zu einer Monadisierung der Menschen, und die zu einem Zustand, den Heiner Müller einmal so beschrieb: »Wer keinen Feind mehr hat, trifft ihn im Spiegel.« Wenn Menschen kein Außen mehr kennen, sondern nur noch sich selbst, gibt es am Ende nur noch die Wahl zwischen Verzweiflung und Selbstoptimierung. Der Pop samt seiner Utopie ist für beides kein guter Partner. Wer nur noch weint, will nichts von Klassenkonflikten wissen, vom Herumvögeln oder davon, der Staatsmacht die Zähne zu zeigen. Und wer nur noch lachen will, kann nicht ertragen, dass ihm das Glück erst in der Zukunft hold sein könnte. Ersterer braucht nichtaufregende Schmonzetten, Letzterer braucht Zerfick-die-Loser-bumms-Beats von Kollegah. Pop wird zum Hintergundgedusel der schnöden Stimmungen.

Der Rest, der etwas mehr zu finden glaubt als nur sich selbst, nimmt sich, was er kennt. Doors, Beatles, Rolling Stones, Fanta Vier, Motörhead. Nur wenige, die Eingeschworenen, suchen weiter und finden Tocotronic, Ja, Panik, Schnipo Schranke oder Sookee. Manchmal hilft ihnen das Radio, denn auch die öffentlich-rechtlichen Sender spielen mittlerweile ungewöhnlichen Pop und sind verhältnismäßig frei zugänglich. Manche der Eingeschworenen entdecken das Missy Magazine oder den Metal Hammer und finden in diesen Zeitschriften Unerwartetes. ByteFM, Spotify oder Twitter weisen manchmal auf neue Musik hin.

Fachzeitschriften wie Visions (für Rocker) oder Spex (für Musikkontextualisierer) ist es vergönnt, »am Markt« (Hans-Werner Sinn) zu überleben – sie bedienen die Fachleute unter den Eingeschworenen und bieten darüber hinaus Distinktions­gewinn.

Doch eine allgemeine Idee von Pop, nämlich die von Intro oder Viva, ist tot: Pop als Heilsbringer der Menschheit, als Korrektiv, als Material. Große – wenngleich auch warscheinlich vergebliche – ästhetische Revolten wie New Wave oder Techno sind gerade nicht auffindbar oder so schnell institutionalisiert, dass sie quasi wirkungslos werden. Der neueste Trend aus London hat sich überholt, bevor er in Berliner Redaktionsräumen angekommen ist. Pop gab jenen, die zumindest über ein Kunststudium nachdachten, die Möglichkeit zur Distinktion, und jenen, die nichts erben würden, wenigstens Halt und Hoffnung. Nun hören alle lieber Altbewährtes von Nick Cave, Madonna, Kylie Minogue oder Elvis, eben das, was man so kennt: Nostalgie.

Wenigstens kennen die Nostalgiker noch die Geschichte, den Jüngeren ist sie schlicht abhanden gekommen. Die große popmusikalische Hoffnung des letzten Jahres bleibt in aller Regel auch die Hoffnung des letzten Jahres und kann sich nicht ins neue Jahr hinüberretten. Wer war nochmal Lady Gaga?

Warum sollte sich also jemand in dieser Zeit die neue Intro-Ausgabe im Club suchen oder Viva einschalten, wenn die Gesellschaft stagniert, wenn das Ich mit sich selbst ringt und Fragen diskutiert werden, deren Ursprung die Mehrheit der Lesenden und Schauenden kaum mehr kennt und sie auch gar nicht interessiert?

Viva hat ein paar Seelen auf dem Land erleuchtet, Intro hat ein bisschen mehr Intellekt in die Kinderzimmer gebracht.

Danke. Nun geht es um Arbeit an der Gesellschaft. Aber die Gesellschaft ändert sich, hallo Frau Wagenknecht, hallo Herr Gabalier, auch keinen Deut, wenn Industriearbeiter wieder schweißtreibend in der Fabrik arbeiten und die Gendertoilette abgeschafft wird. Sie ändert sich ebenso wenig, liebe Telekom, lieber Apple-Konzern, wenn alle tanzen. Denn es kommt immer noch darauf an, zu was sie tanzen.