Michel Jungwirth, Bündnis Solidarity City

»Wir bauen Druck auf«

Das Bündnis Solidarity City wurde in Berlin 2015 gegründet. In den USA, Kanada, Großbritannien, Italien und Spanien setzt sich das Netzwerk für die Rechte von Geflüchteten und Menschen ohne Papiere ein. Zentrale Themen sind Wohnraum, Gesundheitsversorgung und der Zugang zum Arbeitsmarkt. Mit Jungwirth sprach die »Jungle World« über die Herkunft des städtischen Unterstützungskonzeptes, die Unterschiede zu den USA und über die Entwicklung der Seebrücken-Kampagne.
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Was will das Bündnis Solidarity City und wer gehört ihm an?
Wir sind ein Netzwerk von linken Gruppen und Einzelpersonen. Dazu gehören Leute mit und ohne Flucht- oder Migrationserfahrung. Wir wollen die Möglichkeit der Teilhabe am städtischen Leben radikal zugunsten der Menschen verändern. Konkret bedeutet das für uns zunächst vor allem, für die Rechte von Illegalisierten zu kämpfen und der deutschen und europäischen Migrationspolitik etwas entgegenzusetzen. Wir wollen den Gedanken einer solidarischen Stadt weiterentwickeln: Wie kann in Berlin Teilhabe unabhängig vom Aufenthaltsstatus funktionieren?

Das Bündnis »Solidarity City« orientiert sich an der nordamerikanischen »Sanctuary City«-Bewegung. Warum habt ihr euch anders benannt und was unterscheidet euch vom Vorbild?
Weltweit haben sich Städte zu »Sanctuary Cities« erklärt. Diese Städte unterzeichnen eine Erklärung. Sie beinhaltet, dass unabhängig vom Aufenhaltsstatus Zugang zum öffentlichen Leben gewährt wird. Die Idee einer »Solida­rity City« geht politisch darüber hinaus. Es ist ein radikalerer Ansatz, bei dem es um mehr geht als das Gewähren von Zuflucht.

Dazu kommt, dass wir den christlich geprägten Begriff sanctuary – Zuflucht – durch den ­Gedanken der Solidarität ersetzen wollen. Wir orientieren uns in unserer Vorstellung einer solidarischen Stadt derzeit vor allem an der Bewegung in Toronto, mit der wir uns austauschen.

»Wir wollen den christlich geprägten Begriff ›sanctuary‹ – Zuflucht – durch den Gedanken der Solidarität ersetzen.«

Die Bewegung der »Sanctuary ­Cities« selbst entstammt dem Kampf gegen die staatliche Migrationspolitik in den USA der achtziger Jahre. Dort lebten und leben viel mehr Menschen illegalisiert oder ohne gültigen Aufenthaltsstatus als in Deutschland. Wir ­versuchen, ein Bewusstsein dafür herzustellen, dass die im Vergleich kleinere Anzahl hierzulande zwar weniger wahrgenommen, aber ebenso systematisch ausgeschlossen wird. Vieles, was in Nordamerika gesetzlich auf städtischer Ebene geregelt wird, wird in Deutschland auf Bundesebene geregelt. Deshalb ist die städtische Autonomie hier in Deutschland relativ gering. Stadtstaaten haben da mehr Möglichkeiten. Das zeigt die 2016 aufgeho­bene Hamburger Senatorenregelung, die afghanische Geflüchtete vor der Abschiebung schützte.

Heißt das, ihr macht Politikberatung für den Staat?
Wir bauen Druck auf. »Solidarity City« heißt, dass es vor allem auf den Prozess ankommt und dass mit einer offiziellen Erklärung noch nicht viel erreicht ist. Es reicht auch nicht aus, dass in einer Stadt nicht mehr abgeschoben wird. Es muss darüber hinaus ein solidarisches Leben und Zusammenleben für alle möglich sein.

Wie sieht eure konkrete politische Arbeit aus?
Es gibt Spielräume, die wir erweitern wollen – zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsversorgung. In Berlin gibt es seit Jahren Bemühungen, an denen wir auch beteiligt sind, eine Stelle zu schaffen, die anonymisierte Krankenscheine für illegalisierte Menschen ausgibt.

Wir haben ein strategisches Verhältnis zu den Behörden. Wir arbeiten ­zusammen mit ihnen für konkrete Verbesserungen, stellen aber Forderungen, die darüber hinausgehen. Den anonymiserten Krankenschein sehen wir beispielsweise nur als ersten Schritt in die richtige Richtung. Außerdem wollen wir kommunale Strukturen aufbauen. Einen hohen Stellenwert hat es für uns, den Betroffenen Informationen über bestehende Rechte und Möglichkeiten zu vermitteln, damit diese überhaupt zur Geltung kommen können. Gerade in Berlin gibt es schon viele Initiativen, die etwas Ähnliches versuchen. Ohne ein großes Netzwerk würde das, was wir wollen, nicht funk­tionieren.

Nach der Schließung der italienischen Häfen haben sich die Mittelmeer-Fluchtrouten nach Spanien verschoben. Barcelona nimmt mittlerweile Geflüchtete aus dem Mittelmeer auf und bezeichnet sich als Solidarity City. Ein Fortschritt?
Man sollte abwarten, was die nächsten Entwicklungen sind. In ganz Europa wird die Abschottungspolitik weiter ausgebaut, vor einigen Tagen gab es erstmals wieder einen illegalen Push-back der italienischen Küstenwache zurück nach Libyen. Das passiert ja alles gleichzeitig. Was in Spanien geschieht, ist eher eine Reaktion darauf, dass die meisten EU-Staaten das ­Sterben im Mittelmeer inzwischen billigend in Kauf nehmen. Seenotrettung oder die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer werden systematisch kriminalisiert. Wenn sich einzelne Städte zur Menschlichkeit bekennen, ist das ein gutes ­Zeichen, aber es zeigt nicht, dass sich an der Politik etwas Grundsätzliches ändert.

In Deutschland haben Köln, Düsseldorf und Bonn sich vor kurzem mit ­einem offenen Brief an Kanzlerin Merkel gewandt und ihre Bereitwilligkeit signalisiert, Geflüchtete aus dem Mittelmeer aufzunehmen. Auch aus Berlin gibt es solche Signale. Das zeigt, dass die Politik in Deutschland nicht nur Horst Seehofer ist. Aber ob diese anderen Positionen mehr als Lippenbekenntnisse sind, muss überprüft werden. Zumal die Art und Weise, wie mit Geflüchteten in deutschen Städten umgegangen wird, nach wie vor verbesserungswürdig ist.

In Köln, Bonn und Düsseldorf sind es Bürgermeister, die Geflüchtete aufnehmen wollen. Wie steht dieser – von oben kommende – Ansatz im Verhältnis zu eurem Konzept ­einer solidarischen Stadt?
Für unsere Politik hat das bis jetzt eigentlich keine Auswirkungen. Einerseits ist selbstverständlich begrüßenswert, wenn Menschen aus der Politik Farbe bekennen und Geflüchtete aufnehmen wollen. Aber es geht diesen Politikerinnen und Politikern nicht darum, Illegalisierung zu bekämpfen oder Abschiebungen zu verhindern.

Wie sieht eure Zusammenarbeit mit anderen Initiativen und Projekten in Europa aus?
In den letzten Jahren hat sich erst einmal auf deutscher Ebene ein Netzwerk von »Solidarity City«-Initiativen gegründet, dem inzwischen mehr als 15 Städte angehören. Das war ein erster großer Schritt und eine Menge Arbeit. Aber wir sind auch in Kontakt mit Initiativen und Stadtverwaltungen in anderen ­europäischen Städten, zum Beispiel aus Barcelona und Palermo. Wir ­konzentrieren uns aber generell auf Berlin und die Arbeit in der Stadt.
Zudem hat sich in den letzten Wochen mit der Seebrücken-Bewegung für uns ein neues politisches Feld aufgetan, es ist ein europaweiter Aktionstag geplant. Es geht darum, der Rhetorik von Abschottung und Ausgrenzung, die zurzeit die Debatte in ganz Europa dominiert, etwas entgegenzusetzen.

Was könnt ihr zur Entwicklung und den Möglichkeiten der Seebrücken-Kampagne sagen?
So wie es sich in den letzten Wochen entwickelt hat, gibt es ein unglaubliches Potential. Und ich sehe das auch nicht abreißen. Das hat vor einem ­Monat als eine Idee von ein paar Leuten begonnen, jetzt gibt es jedes Wochenende in einem Dutzend Städten Aktionen. Es ist eine breite Bewegung geworden. Bei der Demons­tration in Berlin am 7. Juli waren viele Tausend ­Menschen auf der Straße, total bunt zusammen­gesetzt: Gruppen, Initiativen, Einzelpersonen aus den unterschiedlichsten Ecken der Linken – von der radikalen Linken über NGOs bis hin zu den Leuten aus der Willkommenskultur. Es gibt eine Menge Menschen, die es gut finden, eine Gegenposition zur Abschottung und zum Ertrinkenlassen artikulieren zu können. Die EU-Politik überschreitet für mehr und mehr Leute eine rote Linie. Nur medial aufgenommen wird dieser Aspekt bisher noch nicht. Und wir werden immer mehr.