Transsexuelle Sexarbeiterinnen in Kolumbien gründen eine eigene Zeitung

Raus aus der Schmuddelecke

Seite 2 – Gewalt und Bewegung
Reportage Von

Santa Fé wurde 2002 per Dekret offiziell zur zona de tolerancia (»Toleranzzone«) erklärt. Toleranz, damit ist hier nicht Freiheit gemeint, sondern eher die Kapitulation des Staates. Hier toleriert die Stadtverwaltung seit 2002 Phänomene, die im Rest des Land krimina­lisiert werden. Offiziell bezieht sich das Dekret auf Prostitution. In Kolumbien ist sie zwar nicht illegal, Sextourismus, sexuelle Ausbeutung, Zwangsprostitu­tion, Prostitution Minderjähriger etc. sind allerdings verboten – in Santa Fé jedoch üblich. Damit einher gehen in der »Toleranzzone« Waffenschmuggel, Drogenhandel und -konsum und andere Delikte. Die Polizei betritt das Viertel kaum, unter anderem mit Verweis auf eben jenes Dekret zur »Toleranzzone«.

Kontrolliert wird das Rotlichtviertel zu großen Teilen von illegalen, teils paramilitärischen Gruppen. Das belegen Recherchen verschiedener kolumbianischer Medien und Nichtregierungsorganisationen. Sexarbeiterinnen beschreiben, wie kriminelle Gruppen Schutzgelder und illegale »Steuern« erpressen sowie »Fehlverhalten« bestraften. In der »Toleranzzone« nahmen auch andere Delikte in den vergangenen Jahren stark zu. Bereits 2004 verzeichnete ein Bericht des Rechnungshofes der Stadt einen Anstieg des Drogen- und Waffenhandels, der sexuellen Ausbeutung von Kindern, Frauen und Transsexuellen sowie der Mordrate.

Zugleich ist Santa Fé ein Zentrum der kolumbianischen LGBTI-Bewegung. »Seit über zehn Jahren gibt es in Bogotá einen normativen Rahmen, der der LGBTI-Community theoretisch den Zugang zu allen Grundrechten garantiert«, sagt López. Damit bezieht er sich auf einen Beschluss in Bogotá von 2009, der LGBTI besonderen Schutz und alle Rechte garantieren soll. Es geht unter anderem darum, dass Personen die Autonomie zugesprochen wird, ihre Identität selbst zu definieren. Die Stadt verpflichtet sich, gegen Diskriminierung vorzugehen. Konkrete Aktionen sind die Gründung von Schutzhäusern und kommunalen Zentren für LGBTI, Bildungskampagnen und die Repräsentation von LGBTI in politischen Gremien; unter anderem gibt es im Rathaus einen speziellen Rat bestehend aus LGBTI-Vertreterinnen und -Vertretern. Außerdem wurde eine ­Behörde für sexuelle Diversität gegründet.

Bogotá hat hier eine Vorreiterrolle und ist dem übrigen Land ­voraus.
Seit November 2015 dürfen gleichgeschlechtliche Paare in Kolumbien Kinder adoptieren. Im April 2016 legalisierte Kolumbien die Ehe für alle. »Dennoch sind Diskriminierung und Stigmatisierung nach wie vor alltäg­liche Phänomene«, beschreibt López. Nach Angaben der Nichtregierungs­organisation Colombia Diversa wurden 2017 in Kolumbien mindestens 109 Menschen wegen ihrer sexuellen Identität ermordet. Die Mehrheit der Opfer waren homosexuelle Männer und Transfrauen. Etwa zwei Drittel der ermordeten Transfrauen arbeiteten als Prostituierte. Insbesondere Transfrauen sind nach Angaben der Organisation in hohem Maße Drohungen und Angriffen aufgrund ihrer Identität ausgesetzt. Autoritätspersonen wie Polizisten würden regelmäßig sexuelle Gefälligkeiten einfordern.

 

Eine andere Form von Alltag

La Esquina soll den Frauen – zumindest für einen Moment – ermöglichen, daraus auszubrechen. »Wir bieten ihnen einen Ort, der anders ist als das, was sie gewohnt sind«, sagt Halloween und ergänzt: »Eine Ausflucht aus dem immer gleichen Leben zwischen Straßenecken, Bars und Motelzimmern.« Die Zeitung soll eine andere Form von Alltag bieten, erklärt López und blättert durch ein Exemplar. Darin finden sich neben Texten über sexuelle Gewalt auch Empfehlungen zu Kinofilmen, Gedichte, Veranstaltungstipps und Kreuzworträtsel. Fotos findet man jedoch kaum. In Santa Fé zu fotografieren gilt als zu gefährlich.

Doch nicht nur der Rest der Gesellschaft drängt Prostituierte in eine Ecke. Auch unter den Sexarbeiterinnen gibt es eine Rangordnung. Transsexuelle Prostituierte sind mehrfach diskriminiert: Als Sexarbeiterin, als Frau, als Transsexuelle. Die Rangordnung zeigt sich an den unsichtbaren Grenzen im Viertel: In einem Straßenzug stehen die Cis-Frauen, in einem anderen Trans­sexuelle, in einem weiteren homosexuelle Männer. Weibliche Kundschaft verirrt sich selten nach Santa Fé.

Die Sexarbeiterinnen konzentrieren sich auf die Ecken der Straßenschluchten, wo sie besonders gut erkennbar sind. Für La Esquina war es daher nur folgerichtig, erst einmal dorthin zu gehen: An eine Straßenecke in Santa Fé. Die erste Ausgabe der Zeitung wurde als Wandzeitung an die Backsteine geklebt. So war sie unübersehbar für jene, die sie sehen sollten. Die zweite Ausgabe wurde bereits als reguläre Zeitung gedruckt. López, Lorena, Halloween und ihre Mitstreiterinnen verteilten sie kostenlos innerhalb des Viertels.

Was ihr Traum wäre? Die Zeitung auch außerhalb des Viertels zu verbreiten, erzählt López später auf der Straße. Damit auch die übrige Stadt sehen könne, dass Santa Fé mehr sei als die dunkle Ecke der Gesellschaft.