Die Arbeit der Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte

Dem Vergessen entrissen

Die Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte gibt es seit 30 Jahren. Durch sie wurden erstmals bis dahin vergessene Opfer der NS-Diktatur gewürdigt und anerkannt.

Otto Böhme, geboren am 9. Dezember 1908, wurde am 13. Juni 1938 in Uelzen aufgrund früherer Anzeigen wegen Bettelns, Diebstahls und »Nichtarbeit« in »Schutzhaft« genommen und im Rahmen der »Aktion Arbeitsscheu Reich« am 23. August 1938 in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Dort wurde er schwer misshandelt. Am 25. Januar 1945 kam er in ein Außenlager, später in das Hauptlager des KZ Mauthausen, wo er am 5. Mai 1945 von US-amerikanischen Truppen befreit wurde. Nach dem Krieg wurde sein Antrag auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelehnt, weil er als »Asozialer« verfolgt worden war.

Die Geschichte von Otto Böhme kann symbolisch für die bundesdeutsche Praxis der Nicht-Entschädigung von Verfolgten des NS-Regimes stehen, die nicht aus politischen, religiösen, »rassischen« oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden. Diese Opfer der NS-Diktatur, die aus der »Volks­gemeinschaft« ausgestoßen, verfolgt, eingesperrt und getötet wurden, fanden keine Beachtung im Nachkriegsdeutschland. Das Schicksal der etwa 400 000 Zwangssterilisierten, der Homosexuellen, arbeitslosen oder wohnungslosen Menschen, der Behinderten, der sogenannten »Tunichtgute und Schmarotzer« oder »Gemeinschaftsfremden« interessierte kaum jemanden.

Vielmehr existierten im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre noch viele gesetzliche Verfolgungs­instrumente weiter; der Blick auf die »Asozialen«, »Behinderten« und »sittlich Verfallenen« hatte sich seit Kriegsende nicht wesentlich geändert. »Diese Opfergruppen trafen bei ihren Bemühungen um Entschädigung oder Unterstützung oftmals auf ihre Verfolger von einst, die immer noch bei der Polizei oder der Sozialverwaltung tätig waren«, sagt Stefan Romey, der Vorsitzende der Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte.

Antiziganismus und eine Ablehnung der »Grünen«, der von den Nazis als »Berufsverbrecher« bezeichneten Häftlingsgruppe, spielten auch unter den Verfolgten des NS-Regimes lange Zeit eine Rolle.

Jahrzehntelang versuchten viele von ihnen, Entschädigungszahlungen zu erhalten oder wenigstens als Opfer der Nazidiktatur anerkannt zu werden. Den wenigsten gelang es. In der Konsequenz zogen sich viele ehemals Verfolgte zurück und versuchten, nicht erneut aufzufallen, da sie auch in der jungen Bundesrepublik vor Verfolgung nicht vollständig sicher waren.

Erst in den achtziger Jahren wurde die Praxis des Totschweigens und Vergessens in Frage gestellt. In Hamburg entstand Ende des Jahrzehnts der Gedanke, eine Stiftung zu gründen, die sich um die Entschädigung der bisher nicht beachteten NS-Verfolgten kümmern sollte. »In diesen Jahren gab es auf einmal eine unglaubliche Dynamik. Es schien der richtige Raum und der richtige Zeitpunkt da zu sein, um eine solche Stiftung ins Leben zu rufen«, erinnert sich Romey, einer der Initiatoren. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es weder auf Landes-, noch auf Bundesebene Vergleichbares. In Hamburg wuchs die Bereitschaft indes: Sowohl Bürgermeister Klaus von Dohnanyi als auch sein Nachfolger Henning Voscherau und alle in der Hamburgischen Bürgerschaft vertretenen Parteien unterstützten die Initiative zur Gründung einer Stiftung. Begünstigt wurde dies sicherlich durch die par­lamentarische Präsenz der damaligen Grün-Alternativen Liste (GAL), die sich seit Anfang der achtziger Jahre mit der NS-Diktatur beschäftigt hatte und das Thema ins Parlament einbrachte. Opfergruppen und außerparlamentarische Initiativen wurden angehört und schließlich in die Stiftung eingebunden.

Im Jahr 1988 war es dann soweit. Die Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte wurde gegründet und zunächst mit zehn Millionen Mark Stiftungskapital ausgestattet. »Mein erwachsener Sohn fragte mich neulich, warum die Stiftung erst so spät ins Leben gerufen worden ist. Auf diese Frage konnte ich keine wirkliche Antwort geben«, erzählte Carola Veit (SPD), Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, sichtlich bewegt in ihrer Rede zum kleinen Festakt anlässlich des 30jährigen Jubiläums der Stiftung im Hamburger Rathaus. Doch trotz der späten Gründung waren sich alle geladenen Gäste und Überlebenden einig, dass die Gründung der Stiftung ein wichtiger und richtiger Schritt war. Denn neben der finanziellen Zuwendung als Entschädigung für erlittenes Leid durch die Stiftung schwang immer ein weiteres, ganz wesentliches Element mit. »Jedem einzelnen Antragsteller wurde – größtenteils zum ersten Mal – vermittelt: Dir ist schweres Unrecht geschehen. Wir haben dich nicht vergessen«, sagte Veit. Unbürokratisch und nicht zu kompliziert sollte die Antragstellung sein. Daneben wurde durch die Einbindung vieler Opferverbände ein hoher Grad von Sachkenntnis und Empathie erreicht, der bei Anträgen auf Ämtern und in der Verwaltung nicht gegeben gewesen wäre. Und es gab keine Verjährungsfrist. Einige andere Entschädigungsgesetze wie zum Beispiel das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) setzten Fristen, die viele Antragsteller aus Unwissenheit, Scham oder wegen des Aufenthalts in einem anderen Land versäumten. Gemäß dem BEG konnte man nach 1969 überhaupt keine Anträge mehr stellen.

»Seit Gründung der Stiftung konnten wir in rund 2 000 Fällen durch eine relativ unbürokratische Antragsstellung mit einmaligen oder laufenden Beihilfen helfen«, sagt Romey, der seit etwa sechs Jahren der Vorsitzende der Stiftung ist. Dabei wurde im Laufe der Jahre auch innerhalb der Stiftung heftig gestritten. Bildet man »Fallgruppen«, vereinfacht man also das Antrags­prozedere, indem man etwa allen »jüdischen Kontingentflüchtlingen« eine Leistung zuerkennt? Viele dieser »Kontingentflüchtlinge«, die nach 1991 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einreisten, eint ein Verfolgungsschicksal während der NS-Besatzung. Die Stiftung entschied sich für ihre Entschädigung, was ungefähr die Hälfte aller Antragsteller ausmachte.

Auch in den Opferverbänden gab es Ressentiments gegen bestimmte Verfolgte. Antiziganismus und eine Ablehnung der »Grünen«, der von den Nazis als »Berufsverbrecher« bezeichneten Häftlingsgruppe, spielten auch unter den Verfolgten des NS-Regimes lange Zeit eine Rolle. Dies entsprach dem gesellschaftlichen Blick auf diese Gruppen. Schließlich wurden viele Unrechtsparagraphen aus der Nazizeit erst in den neunziger Jahren aus den Gesetzestexten getilgt. Vorher ging man auch juristisch von einer gewissen ­Berechtigung von NS-Urteilen gegen Deserteure, Obdachlose und Homo­sexuelle aus. »Nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG) musste es sich bei NS-Urteilen, um ein Recht auf Entschädigung zu begründen, um ein Unrechtsurteil handeln«, erläutert Romey. Gerade bei Urteilen gegen »Arbeitsscheue« und Obdachlose wurde nach dem Krieg nicht davon ausgegangen, dass es sich um Unrechtsurteile handele. Durch die Hamburger ­Stiftung wurden hier auch viele Antragsteller zum ersten Mal als Opfer der NS-Diktatur anerkannt.

Derzeit zahlt die Stiftung noch an rund 100 Überlebende des Naziterrors oder ihre Nachkommen eine Beihilfe aus, viele von ihnen sind bereits über 90 Jahre alt. Wie es mit der Stiftung in Zukunft weitergehen wird, bleibt ungewiss. »Wir haben die Frage natürlich schon öfter diskutiert. Wahrscheinlich hört die Arbeit der Stiftung einfach irgendwann auf«, sagt Romey. Im nächsten Jahr geht die letzte haupt­berufliche Verwaltungskraft in Rente. Was neben der erstmaligen Anerkennung vieler Menschen als Opfer des NS-Regimes auf jeden Fall von der Stiftung bleiben wird, sind etwa 2 000 Akten, die jedem Verfolgten eine Geschichte und ein Gesicht geben.