Türkische Oppositionelle werden auch im Ausland verfolgt

Ausland schützt vor Verfolgung nicht

Die türkische Justiz verfolgt weiterhin regierungskritische Oppositionelle und Journalisten, selbst im Ausland sind sie bedroht. Die Freilassung einiger Deutscher kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um die Menschenrechte in der Türkei schlecht bestellt ist.

Die türkische Justiz macht nicht nur Journalisten und Oppositionellen in der Türkei selbst das Leben schwer, sondern auch denen, die geflüchtet sind oder im Ausland leben. Die Journalistin Edibe Doğan und ihre 13jährige Tochter Pelin sitzen seit fast 50 Tagen am Flughafen Zürich in Abschiebehaft. Nach Ablehnung ihres Asylantrags beschlossen die Schweizer Behörden, Mutter und Tochter nach Südafrika auszufliegen, weil beide über Kapstadt eingereist waren. Doğan legte Einspruch gegen diese Entscheidung ein, weil sie von dort eine Auslieferung in die Türkei befürchtet, wo ihr eine Gefängnisstrafe droht.

Doğan kommt ursprünglich aus Mardin, einer Stadt im Südosten der Türkei, wo die Bevölkerung überwiegend kurdisch ist. Tausende Kurdinnen und Kurden haben die Region und das Land wegen der Konflikte zwischen dem türkischen Militär und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verlassen. Doğan ließ sich 2004 in Dohuk in der Autonomen Region Kurdistan im Irak nieder. Die türkischen Behörden ­betrachten sie als Mitglied der PKK, weil die Organisation in den Kandil-Bergen ihr Hauptquartier hat. Doğan bestreitet, der PKK anzugehören, kann aber aufgrund dieser Vorwürfe nicht in die Türkei zurückkehren.

Die aufgezählten Straftatbestände ersetzen in der Türkei die Beweisführung. Die Delinquenten sitzen ohne Verurteilung eine Haftstrafe ab, die sich Untersuchungshaft nennt.

In Irakisch-Kurdistan arbeitete die Journalistin bei der Nachrichtenagentur Waarmedia und bei Zine Waar, einem monatlich auf Kurdisch erscheinenden Nachrichtenmagazin, das besonderes Gewicht auf frauen- und gesellschaftspolitische Themen legt. 2005 heiratete sie und bekam eine Tochter. Nach der Scheidung beschloss Doğan, weiterhin mit ihrem Kind in der Stadt zu leben. Als 2014 der »Islamische Staat« (IS) in der Region vorrückte und die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft veränderte, beschloss sie auszuwandern. Als geschiedene Frau war es für sie immer schwieriger geworden, mit einem Kind in Irakisch-Kurdistan zu leben.

»Meine Tochter ist 13 Jahre alt und sie hat ­keinen Personalausweis. Da wir keine Papiere hatten, konnten wir den Irak nicht verlassen. Die Präsenz des IS in nächster Nähe war für uns wie ein ­Alptraum. Für den Fall eines möglichen Angriffs gab es ein Dorf, in das die Leute flüchten konnten. Aber meine Tochter und ich hatten keine Verwandten, die uns dort aufnehmen könnten. Wir waren Fremde, als geschiedene Frau wird man dort als Störfaktor betrachtet«, sagte sie der Nachrichtenagentur Ahval. »Ich hatte Angst, dass die durch den IS grassierende Verrohung des Verhaltens gegenüber jungen Mädchen ­irgendwie auch Pelin betreffen könnte und dass ich sie nicht vor Übergriffen beschützen kann.«

Das Geld, das sie seit 2005 gespart hatte, gab sie Schleppern, so gelangten Mutter und Tochter schließlich über Südafrika in die Schweiz, wo Freunde leben, und beantragten Asyl. Die Schweiz hält Südafrika für ein sicheres Land. Doğan und ihre Tochter könnten jederzeit dorthin deportiert werden.

Humanitäre Fragen spielen in der ­europäischen Asylpolitik nur noch eine untergeordnete Rolle. Sicher wäre die Journalistin direkt in die Schweiz ­gereist, wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, noch im Irak politisches Asyl zu beantragen. Doch die Flucht mit Schleppern und illegalen Netzwerken ist der einzige Weg für Menschen aus dem Irak und Syrien – auch wenn wie im Fall Doğans ein anderes Land, die Türkei, die größte Bedrohung für sie darstellt.

Schon seit 2015 werden in Mardin und anderen Provinzen im Südosten der Türkei immer wieder Ausgangssperren verhängt. Lokale Politiker werden ­unter fadenscheinigen Begründungen inhaftiert, etwa weil sie Reden in kurdischer Sprache bei öffentlichen Veranstaltungen gehalten haben, und wegen PKK-Propaganda angeklagt. Dabei war es die türkische Regierung selbst, die das Verbot des Kurdischen ab 2004 schrittweise lockerte. Der ehemalige Vorsitzende der prokurdischen Demokratischen Partei der ­Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, kandidierte bei den Präsidentschafts­wahlen im Juni 2018 aus dem Gefängnis heraus. Seit November 2016 sitzt er mit fast der gesamten ehemaligen Parteispitze in Untersuchungshaft. Landesverrat, Propaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gehören zu den Vorwürfen.

Wie in anderen Verfahren auch ersetzen die aufgezählten Straftatbestände gleich die Beweisführung. Die Delinquenten sitzen ohne Verurteilung eine Haftstrafe ab, die sich Untersuchungshaft nennt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die türkische Regierung deshalb bereits mehrfach ermahnt.

Nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 verhängte die türkische Regierung den Ausnahmezustand, der bis zu den Präsidentschaftswahlen regel­mäßig verlängert wurde. Seit Einführung des Präsidialsystems genügt ein Dekret des Präsidenten, um Bürgerrechte außer Kraft zu setzen. Das plötzliche Auftauchen von Tatvorwürfen gegen Unbequeme ist mittlerweile an der Tagesordnung.

Im Ausland lebende, sogar lediglich ehemalige türkische Staatsbürger, die der Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan kritisch gegenüber­stehen, sind bei der Einreise in die Türkei gefährdet. Nach 45 Tagen in türkischer Untersuchungshaft kam am 10. Oktober der wegen Präsidentenbeleidigung angeklagte Hüseyin M. aus Braunschweig frei. Eine Ausreisesperre sei nicht verhängt worden, sagte sein Anwalt Erdal Güngör der Deutschen Presseagentur nach dem Prozessauftakt in Ankara am 9. Oktober. M. dürfe nach Hause fliegen. »Der Prozess geht allerdings weiter«, sagte Güngör. Der nächste Termin sei für den 9. April 2019 angesetzt. Das Gericht habe M. unter anderem auf freien Fuß gesetzt, weil er keine Vorstrafen hat.

M. war Ende August während seines Urlaubs in der Türkei festgenommen worden. In der Anklageschrift heißt es, er habe Präsident Erdoğan am 23. Mai 2014 und am 27. Juli 2015 in Facebook-Einträgen beleidigt. Laut der Anklage soll der Braunschweiger in Posts Erdo­ğan sowohl 2014, als er noch Ministerpräsident war, als auch 2015, als er bereits Präsident war, unter anderem als »Kindermörder« bezeichnet haben. M. war von Unbekannten denunziert worden. Seit dem vereitelten Putsch von 2016 ist die türkische Bevölkerung dazu aufgefordert, jede Form von »staatsfeindlichen Aktivitäten« umgehend zu melden. Im August 2018 sei M. in gleich mehreren E-Mails, unter anderem an das Präsidialamt, angezeigt worden, so sein Anwalt Güngör. M. drohen weiterhin bis zu sechs Jahre Haft. Mit seiner Ausreise wird er für die türkische Justiz aber wohl nicht mehr greifbar sein, selbst wenn er bei folgenden Gerichtsterminen verurteilt werden sollte.

Seine Freilassung ist, wie in den Fällen der Journalisten Deniz Yücel und Meşale Tolu, politisches Kalkül. Tolu war sieben Monate, Yücel über ein Jahr in der Türkei inhaftiert. Tolu durfte auch nach ihrer Haftentlassung monatelang nicht ausreisen und konnte erst im August nach Deutschland zurückkehren. Bei ihrem jüngsten Prozess­termin in der Türkei am 16. Oktober wurde auch die Ausreisesperre gegen ihren Ehemann Suat Çorlu aufge­hoben, der ebenfalls wegen Terrorvorwürfen in der Türkei inhaftiert ge­wesen war.

Die Bundesregierung betont immer wieder, dass die Freilassung Deutscher aus türkischen Gefängnissen eine zentrale Verbesserung der bilateralen Beziehungen darstelle. Die systematische Missachtung von Menschenrechten im Land und die steigende Anzahl Asylsuchender in Europa hinderte eine prominent besetzte deutsche Wirtschaftsdelegation unter Vorsitz von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) allerdings nicht daran, am Donnerstag und Freitag zur »Vertiefung der Zusammenarbeit in Wirtschafts- und Energiefragen« in die Türkei zu reisen; unter anderem zur Eröffnung der zweiten Sitzung der deutsch-türkischen Energietagung.

Deutsche Lippenbekenntnisse, Menschenrechte durchsetzen zu wollen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Türkei derzeit eines der größten Gefängnisse für ­Oppositionelle weltweit ist. Außenpolitisch bleibt dies nahezu folgenlos.