Die Republikaner in den USA machen den Sozialismus salonfähig

Sozialismus auf Amerikanisch

In den USA wächst die Unzufriedenheit über soziale Missstände. Der Ruf nach einer gesellschaftlichen Umverteilung und einem funktionierenden Sozialstaat wird lauter. Die Rede ist von Sozialismus.

Ein Video zeigt einen Angestellten der Fastfoodkette Dunkin’ Donuts, der einen Obdachlosen mit Wasser übergießt, weil er im Laden versucht hatte, an einem Tisch zu schlafen. Das rief in den USA ungewöhnlich heftige Empörung hervor. Die soziale Krise ist bis ins Zentrum gesellschaftlicher Normalität vorgedrungen. Es ist in den USA wieder angesagt, soziales Gewissen zu demonstrieren. Die Schönheitskönigin des Bundesstaats Michigan, Emily Sioma, stellte sich beim Miss-America-Wettbewerb Anfang Oktober mit den Worten vor, sie komme aus dem Staat mit »84 Prozent des US-amerikanischen Süßwassers, aber keinem trinkbaren Wasser für seine Bewohner« – eine Anspielung auf den Trinkwasserskandal in der Stadt Flint.

Das Magazin Teen Vogue, in dem derzeit zwischen Artikeln über Hautpflege und Justin Bieber sowie Rezepten für Kürbiskuchen auch der eine oder andere Artikel über Karl Marx und den Kapitalismus steht, schließt sich ebenfalls der Kritik an. Glaubt man dem Twitter-Team des Magazins, kann man die Armut nicht beenden, ohne den Kapitalismus abzuschaffen.

Auch wenn die offiziellen Wirtschaftszahlen der Regierung positiv wirken, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. Offiziell mag die Arbeitslosigkeit bei nur vier Prozent liegen, doch vor Armut schützt auch Lohnarbeit nicht. Weniger als 40 Prozent der US-Amerikaner haben genug Geld gespart, um eine unerwartete Autoreparatur oder eine Arztrechnung von 1 000 Dollar oder mehr zahlen zu können. Die mageren Lohnerhöhungen der vergangen 18 Monate reichen gerade, um die Inflation auszugleichen.

Angriffe der Republikaner auf das Wohlfahrtssystem treiben die US-Bevölkerung nach links.

Bei den kommenden Midterm-Wahlen wird zumindest im Repräsentantenhaus eine moderate »blaue Welle«, also ein Sieg für die Demokraten erwartet. Doch es gibt auch eine Strömung, die nach weiter links tendiert. Und deren Antriebe sind stärker, als sie erscheinen: Lehrerinnen und Lehrer revoltierten in republikanisch regierten Bundesstaaten gegen Budgetkürzungen. Die Überlebenden von Schulschießereien demonstrierten gegen den freien Verkauf von Sturmgewehren. Feministinnen unterbrachen die Anhörung Brett Kavanaughs im Senat.

Diese neue Bewegung wurde weder von Bernie Sanders geschaffen noch von der Gruppe Democratic Socialists of America (DSA), deren Mitgliederzahl von 7 000 auf 60 000 angewachsen ist. Eher sammeln sich in dieser diffusen Bewegung aus verschiedenen Gründen Unzufriedene. Eine neuer Machtfaktor im Kampf um die zukünftige Richtung der US-Politik entsteht. Von den diesjährigen Vorwahlen der Demokraten zu den Midterm-Wahlen haben die DSA 50 gewonnen. Dazu gehört der Sieg der 29jährigen Alexandria Ocasio-Cortez bei der Vorwahl für einen Sitz im Repräsentantenhaus über den Amtsinhaber. Linke Newcomer erkämpften ihre Plätze mit Forderungen nach umfassender Gesundheitsversorgung, fairen Löhnen oder einer Strafrechtsreform.

Der Council of Economic Advisers des Weißen Hauses veröffentlichte in der vergangenen Woche einen Bericht, der monierte, dass »200 Jahre nach der Geburt von Karl Marx der Sozialismus ein Comeback in den USA« erlebe, und warnte angesichts dessen eindringlich vor den »Kosten des Sozialismus«.

Eine Generation nach Ende des Kalten Krieges revidierte Francis Fukuyama seine These von der liberalen Demokratie als dem »Ende der Geschichte«. Marx, gab der ehemalige Neokonservative unlängst zu, habe da ein paar richtige Dinge über Krisen im Kapitalismus gesagt. Es sei an der Zeit, dass »der Sozialismus zurückkommen« dürfe. Vielleicht nicht unbedingt gleich in Form der Kollektivierung der Produktionsmittel, aber etwas mehr Gerechtigkeit angesichts des gegenwärtig extrem ungleich verteilten Wohlstands des Landes wäre nicht übel.

Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup zufolge haben potentielle Wählerinnen und Wähler der Demokraten eine deutlich positivere Meinung vom Sozialismus (57 Prozent) als vom Kapitalismus (47 Prozent). Wie Fukuyama meinen sie damit vermutlich mehr Sozialstaat und eine progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen. Gegenwärtig sind es aber die Angriffe der Republikaner auf das bestehende Wohlfahrtssystem, die die US-Bevölkerung nach links treiben. Der Versuch, den von Präsident Barack Obama eingeführten Affordable Care Act, durch den etwa 20 Millionen Menschen eine Krankenversicherung erhielten, wieder abzuschaffen, verstärkte die Unterstützung für das Programm. Es waren schließlich abtrünnige Republikaner, die verhinderten, das Gesetz zurückzunehmen. Sie standen landesweit unter dem Druck der Bewohner ihrer Wahlbezirke, die tagtäglich mit der Krise des US-Gesundheitssystems konfrontiert sind. Vor allem die andauernde Opioidkrise ist zu einer immensen Belastung geworden. Anders als früher konzentriert sich Drogensucht heutzutage nicht mehr vorwiegend auf Großstädte, sondern betrifft vor allem die ländliche, weiße Mittelschicht. Gegenwärtig genießen Vorschläge einer allgemeinen Gesundheitsversorgung, wie sie der US-Senator Bernie Sanders fordert (»Medicare for all«), die Unterstützung von rund 70 Prozent der US-Bürger. Darunter fällt auch eine Mehrheit republikanisch wählender Amerikaner. Versuche der Republikaner, sämtliche sozialstaatlichen Politikvorschläge als maoistischen, stalinistischen oder venezolanischen Alptraum darzustellen, verlieren immer mehr an Glaubwürdigkeit.

Die neue linke Bewegung in den USA ist jedoch weniger populistisch im Sinne einer Politik gegen vermeintliche Eliten, als es allgemein unterstellt wird. Sie ist hingegen wirklich populär. Sie artikuliert einen neuen common sense, die enormen sozialen und ökonomischen Missstände auf solidarische Weise anzugehen. In den USA entwickelt sich ein neuer Gemeinsinn, sogar über sozialen Grenzen hinweg.