Ein Besuch in Athen am 10. Jahrestag des Mordes an Alexandros Grigoropoulos

Brennende Wut

Reportage Von

Athen. In den Straßen von Exarchia herrscht gespenstische Stille. Lediglich das Rattern von Rolltoren, die von den Ladeninhaberinnen und -inhabern hastig verschlossen werden, ist in dem als alternativ geltenden Stadtteil Athens zu hören. Einige Gehminuten nördlich der Innenstadt brennen bereits am Nachmittag zahlreiche Lagerfeuer und Barrikaden. In den Gassen hängt der beißende Geruch von verbranntem Plastik. Immer wieder sind im Viertel vermummte Personengruppen zu sehen.

Es ist der zehnte Jahrestag des Mordes an Alexandros Grigoropoulos. Der 15jährige Alexis, wie er in Griechenland kurz genannt wird, wurde am 6. De­zember 2008 von dem Polizisten Epaminondas Korkoneas am Rande von Exarchia erschossen. Der Jugendliche war nach einer Feier mit Freundinnen und Freunden auf dem Heimweg. Die beiden an der Tat beteiligten Polizisten behaupteten, es habe zuvor eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe Autonomer gegeben und Grigoropoulos habe eine Flasche auf ihren Streifenwagen geworfen. Es seien Warnschüsse abgegeben worden, um den Jugendlichen zu erschrecken. Das Gericht befand jedoch 2010, Korkoneas habe vorsätzlich getötet, und verurteilte ihn wegen Mordes zu lebenslanger Haft sowie seinen Mittäter zu zehn Jahren Gefängnis.

Die Wut der Jugendlichen ist zu spüren. Vermummt und teils verkleidet beginnen sie, Steine aus dem Boden zu lösen und Wurfmunition zu sammeln. Es riecht nach Sprühlack. Auf der Wand stehen nun Alexis’ Name und sein Todesdatum.

Wochenlang erschütterten nach dem Todesschuss zumeist nächtliche Pro­teste gegen Polizeiwillkür Griechenland. Der 34jährige Fotojournalist Dimitris, der 2008 in Thessaloniki Maschinenbau studierte, erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Ohne Smartphones erreichte die Nachricht von der Tat nur nach und nach die nordgriechische Metropole. »Der Mord an Alexis war nur der Auslöser. Die fehlende Perspektive der Jugendlichen, die beginnende Krise, steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne haben für allgemeine Unzufriedenheit gesorgt«, erzählt Dimitris.

Im Jahr vor dem Mord kam es zu Studierendenprotesten gegen die Privati­sierung von Universitäten. Polizeigewalt und -willkür gehörten zum Alltag. An Aufständen beteiligten sich nach einigen Tagen Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft, die Weihnachtszeit beendete sie. »Zum ersten Mal wussten wir, dass wir eine Stimme haben. Zum ersten Mal hatten wir weltweite Aufmerksamkeit. Wir dachten, wir könnten wirklich etwas schaffen, etwas ändern. Wir haben ernsthaft am bestehenden politischen System gezweifelt und wollten es angreifen«, erinnert sich Dimitris. »Für uns war klar: Es war nicht ein Polizist, der Alexis ermordet hat, es war der Staat. Wenn gewaltsame Übergriffe der Polizei zum Alltag gehören und niemand bestraft wird, dann ist es der Staat. Solange kein Polizist für seine Taten bestraft wird, wird sich nichts ändern.«

 

Von Alexis bis Zak

Zehn Jahre nach dem Mord gehen in Athen erneut Tausende auf die Straße. Mittags treffen sich Schülerinnen und Schüler sowie Studierende unweit des griechischen Parlaments. Gleich zu Anfang der Demonstration wird klar: Militante Aktionen gegen die eingesetzte griechische Aufstandsbekämpfungseinheit MAT werden folgen. Für die Demonstrationen am 6. Dezember haben die Behörden rund 2 500 Polizistinnen und Polizisten und einen Helikopter bereitgestellt, die U-Bahnstation am Syntagma-Platz wird zeitweise gesperrt.

Die Wut der Jugendlichen ist zu spüren. Vermummt und teils verkleidet beginnen sie, Steine aus dem Boden zu lösen und Wurfmunition zu sammeln. Es riecht nach Sprühlack. Auf der Wand stehen nun Alexis’ Name und sein Todesdatum. Kurze Zeit später fliegen Steine auf Banken und öffentliche Gebäude entlang der Route. Nahe dem berühmten Syntagma-Platz fliegen dann auch Molotow-Cocktails. Zum ersten Mal an diesem Tag legt sich der beißende Geruch von Tränengas über die griechische Hauptstadt. Mindestens eine Person wird niedergeknüppelt und festgenommen. Unbeirrt demonstrieren die Schülerinnen und Schüler weiter und rufen, dass der Tag Alexis gehöre.

Elisabeth ist 30 und Informatikingenieurin aus Athen. Sie sieht in den Protesten mehr als nur ein Gedenken an einen Mord: »Dieses spezielle Ereignis erinnert die Leute daran, dass die Gewalt der Regierung bis in unseren Alltag reicht. Aus meiner Sicht stellt der Protest an diesem Tag einen Widerstand gegen das bestehende kapitalistische System und Autorität im Allgemeinen dar«, sagt sie. »Wir sollten uns dem gesellschaftlichen Zwang nicht beugen.«

Am Abend kommen dann nochmals Tausende Menschen, um sich an der jährlich stattfindenden Demonstration zu beteiligen. Die Parolen erinnern an diejenigen nach zahlreichen anderen Fällen, bei denen politisch aktive Menschen in den vergangenen Jahren verletzt oder getötet wurden. Auf dem Fronttransparent steht: »Von Alexis bis Zak. Die griechische Politik des Tötens geht weiter.« Es ist ein Verweis auf den Fall des LGBTQ-Aktivisten Zak Kostopoulos, der Ende September mutmaßlich gelyncht wurde. Die Todesursache war Herzversagen, hervorgerufen durch Schläge und Tritte. Mittlerweile müssen sich vier Polizisten wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor Gericht verantworten.

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»Von Alexis bis Zak. Die griechische Politik des Tötens geht weiter«. Frontbanner der Gedenkdemonstration in Athen

Bild:
Michael Trammer

Auch Vaggelis, ein 28jähriger Musiker aus Athen, demonstriert heute. Er beschäftigt sich in seiner Musik mit gesellschaftlichen Problemen und dem griechischen Alltag. Seit zehn Jahren nimmt er an Protesten anlässlich der Ermordung von Alexandros Grigoropoulos teil. Während er auf den Beginn der Demonstration wartet, sagt er: »Meiner Meinung nach ist der Protest unglaublich wichtig. Ein Kind wurde ermordet von Polizisten und der Regierung. Jedes Jahr – so wie auch dieses Jahr – werde ich mich an diesen Protesten betei­ligen, denn was passiert ist, darf niemals in Vergessenheit geraten.«


Barrikaden bauen

Die traditionelle Erinnerungsdemonstration am Abend verläuft dieses Jahr ruhig. Vor dem Parlament, wo es in den vergangenen Jahren immer wieder zu schweren Ausschreitungen ­gekommen ist, fliegt lediglich eine Leuchtfackel in die Reihen der Aufstandsbekämpfungseinheiten. Zahlreiche Personen wurden bei der Ankunft durchsucht.
Doch zur selben Zeit verschärft sich die Lage in Exarchia. Auf der Stournari-Straße nahe des Haupteingangs des Polytechneio, der Technischen Universität, brennen Barrikaden. Erstaunlich früh stehen Polizeieinheiten hinter der besetzten Universität – in einem Viertel, das sie normalerweise nicht betreten, aus dem heraus regelmäßig Angriffe von Autonomen auf die Polizei erfolgen und in dem sich viele Bewohnerinnen und Bewohner solidarisch mit den Protesten zeigen, etwa indem sie durch offene Haustüren Rückzugsmöglichkeiten bieten. Auch an den beiden Abenden vor den Protesten hat es Attacken auf die Polizei gegeben. Auf Indymedia finden sich Bekenntnisse zu Angriffen auf die Polizeistation bei Exarchia und das Wohngebäude eines Ministers der Partei Syriza.

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Frohe Weihnachten! Gut vermummt zu den Riots

Bild:
Michael Trammer

Hinter den brennenden Barrikaden werfen Demonstrierende Steine, Molotow-Cocktails, Brandbomben und Raketen in Richtung der Polizeieinheiten. Diese antworten mit Blendgranaten, Tränengas und Rauchbomben. Meter für Meter versucht die griechische Po­lizei vorzurücken und dabei außer Reichweite der Brandsätze zu bleiben. Die Protestierenden im Viertel scheinen sich gut vorbereitet zu ­haben. Wie aus dem Nichts tauchen immer neue Mo­lotow-Cocktails auf. Es riecht nach Feuer und Benzin. In einer Seitenstraße antworten die Einsatzkräfte auf die Angriffe mit auf Hüfthöhe abgefeuerten Tränengasgranaten, zu späterer Stunde auch mit Steinwürfen.

Bei den diesjährigen Protesten in Athen wurden 66 Personen in Gewahrsam genommen, 13 davon verhaftet. Unter ihnen waren drei Minderjährige und zwei Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Auch in Thessaloniki und anderen Städten hat es an jenem Tag Demonstrationen und Ausschreitungen gegeben. Prozesse werden folgen. Es gab zahlreiche Verletzte.

Immer wieder kommt es zu brutalen Szenen bei Verhaftungen. Auf Youtube kursieren Videoaufnahmen, die vermutlich vom 6. Dezember 2018 in Athen stammen und die Brutalität der Polizei zeigen. Doch selbst eine Woche später kündigt das griechische Innenministerium keinerlei Konsequenzen an. Die griechische Polizei geht auch zehn Jahre nach dem Mord an Grigoropoulos und nach mehreren großen Protestwellen häufig brutal gegen Protestierende vor.