»Why Hasn’t Everything Already Disappeared?« - Das neue Album von Deerhunter

Barocke Dunkelheit

Das achte Album der Indierock-Band Deerhunter klingt nach Baroque Pop aus den sechziger Jahren.

Bradford Cox und seiner Band Deerhunter ist mit »Why Hasn’t Everything Already Disappeared?« ein kurzweiliges Album gelungen. Auf dem achten Longplayer der Band aus Athens, Georgia, verfeinern Anleihen aus dem Baroque Pop den versponnenen, stets von den Sixties inspirierten Indierock der Gruppe. Bereits bei der Vorabsingle »Death in Midsummer« dominiert nicht die Gitarre, sondern ein markantes Cembalo (gespielt von der walisischen Musikerin und Produzentin Cate Le Bon), das so klingt, als wolle sich die Band in Richtung von The Left Banke verbeugen, deren Popsongs mit Cembalo und Streicherarrangements vor gut 50 Jahren erstmals das Attribut »barock« zugesprochen wurde.

Daraus entstand ein ganzes Genre aus mal opulentem, mal subtilerem Orchestereinsatz in der Musik zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre, wie man ihn bei zahlreichen Stücken der Beatles und Beach Boys aus dieser Zeit hören kann, aber ebenso bei psychedelischen Rockbands wie den Zombies und den Kinks. Scott Walker prägte auf seinen Soloalben ab 1967 einen besonderen Kammerpop und reizte die orchestralen Möglichkeiten in der Popmusik wohl am weitesten (und brillantesten) aus. Im Übrigen ist diese Spielart nicht zu verwechseln mit all den grauenvollen Anbiederungsversuchen aus der kommerziellen klassischen Musik in Richtung Populärkultur, Stichwort »Classic meets Rock«. Der Begriff Baroque Pop als retrospektive Stilbezeichnung setzte sich indessen erst Jahrzehnte später durch.

Der morbide Titel des Albums liefert das Leitmotiv für alle Texte. Ständig geht es darum, zu verschwinden, auf ewig fortzugehen, gar Zuflucht im Glauben an das Jenseits zu finden – mal mit versöhnlichen, hoffnungsvollen, häufiger allerdings mit düsteren Konnotationen.

Deerhunter beschränken sich auf den pointierten wie beiläufigen Einsatz von Bläsern, Streichern oder eben Tasten- und Zupfinstrumenten. Es bleibt abzuwarten, wie sie das live umsetzen werden. Inzwischen sind sie mit dem Saxophonisten und Keyboarder Javier Morales zwar wieder zum Quintett angewachsen, bei manchen Stücken wie dem zunächst verträumt erscheinenden »No One’s Sleeping« dürfte die Instrumentierung mit mehrstimmigen Bläsern und Klavier dennoch zu groß ausfallen, um sie auf der Bühne eins zu eins wie auf der Platte zu spielen. Das Lied ist zudem ein gutes Beispiel für das einigermaßen konventionelle, aber ausgefeilte Songwriting des Sängers, Gitarristen und Hauptkomponisten Bradford Cox. Den Refrain ersetzen hier (wie auch beim Mini-Hit »Futurism« unter Mitwirkung von Tim Presley) eingängige Instrumentalpassagen, die die Höhepunkte des Songs bilden. Dessen ausgedehntes Ende wird hingegen durch einen neuen Melodiebogen bei verändertem Rhythmus eingeleitet – wie oftmals bei Deerhunter nun Uptempo mit einem treibenden Snare-Beat, den man eher aus ­Northern Soul und Yéyé-Pop kennt als vom Indierock.

Der Songtext lässt sich in seinem Eskapismus auch als politischer Kommentar zur Lage der USA lesen: »No one’s sleeping / Great unrest / In the country / There’s much duress / Violence has taken hold / Follow me / The golden void.« Der Unruhe, den Zwängen und der Gewalt wird die Flucht in eine goldene Leere gegenübergestellt, in der zweiten Strophe gar die vage Hoffnung auf das Nachleben (»The Great Beyond«), wobei unklar bleibt, wie sarkastisch das am Ende gemeint sein mag.

Der morbide Titel des Albums liefert das Leitmotiv für alle Texte. Ständig geht es darum, zu verschwinden, auf ewig fortzugehen, gar Zuflucht im Glauben an das Jenseits zu finden – mal mit versöhnlichen, hoffnungsvollen, häufiger allerdings mit düsteren Konnotationen. Die Leichtigkeit und Beschwingtheit der Musik spiegelt sich zwar in Cox’ ge­lassen verschlepptem Gesang, in all den Aussagen zu Vergänglichkeit und Vergeblichkeit herrscht hingegen barocke Dunkelheit, nicht Bach, sondern Gryphius.

Seit Gründung der Band hat diese sich personell stark und dramatisch verändert. Außer Cox ist der Schlagzeuger Moses Archuleta, der vor anderthalb Jahren als Moon Diagrams sein angenehm unterkühltes, noisig-waviges Solodebüt veröffentlichte, das einzige Gründungsmitglied, das noch mit dabei ist, seit die beiden die Band 2001 als Teenager ins Leben riefen. Der Gitarrist Lockett Pundt, der seine eigenen psychedelischen Lo-Fi-Produktionen unter dem Namen Lotus Plaza herausbringt, ist nach Erscheinen des ersten Deerhunter-Albums 2005 eingestiegen. Noch vor der Aufnahme des Debütalbums war Bassist Justin Bosworth nach ­einem Skateboard-Unfall gestorben. Sein Nachfolger Joshua Fauver verließ die Gruppe 2012, erst vor zwei Monaten wurde sein Tod bekanntgegeben, die Ursache allerdings nicht genannt. Die Nachrufe hoben seinen Anteil speziell am wohl besten Album der Band hervor, »Halcyon Digest« von 2010.

Deerhunter waren bereits ein paar Jahre als Indieband etabliert, als Cox, Pundt, Fauver und Archuleta als Quartett ihr fünftes Album aufnahmen und mit diesem vom US-Label Kranky zu 4AD wechselten. »Halcyon Digest« war der große Durchbruch der Band und gilt bis heute als ein Meilenstein ihrer Laufbahn und generell der jüngeren Rockgeschichte. Den zunächst experimentellen, dann garagigen bis klassischen Indierock-Sound entwickelten sie weiter in Richtung eines filigranen, psychedelischen Dream Pop, der von allerlei Retroeinflüssen durchwirkt, aber gleichzeitig noch eigen und mit ein paar dezenten Elektronikelementen auf der Höhe der Zeit war – angefangen mit dem getragenen, entrückten »Earthquake«, über die angepsychten, flotten Singles »Revival« und »Memory Boy« bis zum schillernden, sich über fünf Minuten steigernden »Helicopter« und dem epischen Abschluss »He Would Have Laughed«.

So pathetisch das auch klingt, es handelt sich bei »Halcyon Digest« weiterhin um ein nahezu makelloses Album. Deerhunter trugen damit zum Shoegaze-Revival der vergangenen Jahre bei oder nahmen dieses sogar vorweg, ehe etwa My Bloody Valentine 2013 oder Slowdive 2017 mit neuen Alben nach erfolgreicher Reunion nahtlos an ihr altes, stilprägendes Werk anknüpften. Entsprechend ist es auch wenig verwunderlich, dass Deerhunters wieder stärker am Garage Rock orientierte Nachfolger »Monomania« von 2013 und das etwas synthielastigere »Fading Frontier« zwei Jahre darauf zweifellos gut, aber nicht ganz ebenbürtig mit »Halcyon Digest« erscheinen. Vergangenen Mai verkaufte die Band nach einem Konzert in New York eine streng limitierte Langspielkassette mit neuen Aufnahmen, die die reguläre Neuerscheinung ankündigen sollte. Dem Vernehmen nach haben die zumeist instrumentalen Songs auf »Double Dream of Spring« einen experimentelleren Charakter, man darf hoffen, dass sie wiederveröffentlicht werden. Ob es als vollwertiges Album der Gruppe angesehen werden kann, sei dahingestellt.

Bradford Cox hat seine ebenfalls hochgelobten Soloarbeiten offenbar seit einiger Zeit zurückgestellt. Das dritte und jüngste Album erschien ebenso wie die vorherigen unter dem Namen Atlas Sound, es kam 2011 heraus. Allerdings hat sich der Stil der Solowerke ohnehin immer mehr dem seiner Band angenähert. Dem Ambient- und Lo-Fi-Sound des Debütalbums von Atlas Sound attestierte Michael Saager vor mehr als zehn Jahren eine »seltsam entrückte Schönheit und erhebliche Intensität« (Jungle World 26/2008). Diese Tiefe des Ausdrucks, die auch »Hal­cyon Digest« auszeichnete, stellt sich bei »Why Hasn’t Everything Already Disappeared?« nur teilweise ein, der existentiellen Thematik zum Trotz. Und auch die Leichtfüßigkeit, mit der die Retroelemente formschön ein­gesetzt werden, führt nicht dazu, dass die Platte ähnlich zeitlos wirkt wie die längst arrivierten Impuls­geber von vor 50 Jahren.

 

Deerhunter: Why Hasn’t Everything Already Disappeared? (4AD)