In Indien streikten rund 200 Millionen Menschen gegen die Regierung

Modi und der Megastreik

In Indien traten an die 200 Millionen Beschäftigte in einen ­48stündigen nationalen Ausstand, um gegen die Politik des Premier­ministers Narendra Modi und die hohe Arbeitslosigkeit zu protestieren.

Es soll der umfassendste Generalstreik der Geschichte Indiens und damit möglicherweise der größte Streik in der Menschheitsgeschichte gewesen sein: Bis zu 200 Millionen Beschäftigte beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben am 8. und 9. Januar an dem Ausstand. Zehn der zwölf indischen Gewerkschaftsverbände hatten zum Streik aufgerufen, ebenso fast alle unabhängigen Vereinigungen der Angestellten.

Der Hauptgründe des Streiks waren zum einen die ungebrochen hohe Arbeitslosenrate und zum anderen eine geplante Gesetzesänderung, die es den Gewerkschaften erschweren soll, Beschäftigte zu organisieren sowie ­Aktionen zu planen und auszuführen. Die Änderung des seit 1926 gültigen Gewerkschaftsgesetzes wurde bereits vom Kabinett des indischen Premierministers Narendra Modi beschlossen und bedarf nur noch der Zustimmung des Parlaments. Dort hat Modis Partei, die rechtskonservative und hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP), die absolute Mehrheit.

»Die Kongresspartei würde uns wenigstens zuhören und handeln. Aber die BJP hört nicht auf die Arbeiter.«
Mohan Shanmugam, Generalsekretär der südindischen Labour Progressive Federation

Die BJP argumentiert, das Gesetz werde das Wirtschaftswachstum befördern. Die Gewerkschaften sehen dies anders. Die traditionell starke indische Gewerkschaftsbewegung hat bereits mehrfach gegen die Politik der BJP protestiert. An einem Generalstreik 2016 beteiligten sich über 150 Millionen Menschen. Nun riefen Kommunisten, So­zialdemokraten, Reformer, Frauenorganisationen und der Arbeiterverband der Oppositionspartei Indian National Congress (Kongresspartei, INC), also nahezu alle Gewerkschaften zum 48stündigen Ausstand gegen das Gesetz auf, das »für sklavereiähnliche ­Bedingungen« sorgen werde, so Tapan Sen, der Generalsekretär der Gewerkschaft Centre of Indian Trade Unions (CITU), die mit der Communist Party of India (Marxist) verbunden ist.

Gemeinsam repräsentieren die Verbände Beschäftigte in allen Industrie- und Dienstleistungsbranchen, im formellen wie informellen Sektor. Die ­Gewerkschaften haben für den Streik einen Katalog mit zwölf Forderungen vorgelegt. Darin fordern sie unter anderem die Erhöhung der Mindestlöhne und die Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts.

Während des Ausstands ging im Land nicht mehr viel. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen wich­tigen Bereichen wie Transport, Banken und Energieversorgung sowie im gewerkschaftlich zumeist unorganisierten informellen Bereich, darunter Straßenverkäufer und Taxifahrerinnen, beteiligten sich am Streik. Zahlreiche Bankfilialen blieben an beiden Tage geschlossen. Durch den Streik im Transportwesen konnten auch viele Regierungsbeamte und -beschäftigte nicht zur Arbeit erscheinen. In den Bundesstaaten Kerala, Karnataka und Odisha wurden die Arbeitsniederlegungen der CITU zufolge von Massenprotesten, Demonstra­tionen und Straßen- und Eisenbahnblockaden begleitet. Im Bundesstaat Assam wurden Hunderte Protestierende verhaftet, darunter Tapan Sharma, der regionale Generalsekretär der CITU. Trotz dieser Repressalien blieben zahlreiche Erdölraffinerien sowie alle Teeplantagen des Bundesstaats geschlossen. Während eines Streiks 2017 war die Darjeeling-Ernte so eingeschränkt worden, dass es zu erheblichen Engpässen im internationalen Teehandel kam.

Auch die Organisationen der Bäuerinnen und Bauern beteiligten sich am Streik. Aufgerufen hatte eine Allianz aus Organisationen, die sich für Kleinbauern sowie für Landarbeiterinnen einsetzt. Besonderen Einfluss hat »All India Kisan Sabha« (AIKS), der Bauernverband der Communist Party of India (Marxist). Ashok Dhawale, der Vorsitzende der AIKS, sagte: »Bauern werden enteignet und gezwungen, ihre Arbeitskraft im informellen Sektor unter prekären Bedingungen zu verkaufen. Diese Situation erfordert mehr koordinierte Aktionen zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft.« Neben den Forderungen der Gewerkschaften verlangen die Bauernverbände einen Schuldenerlass für Bauern und Land für mittellose Arbeiterinnen und Arbeiter.

Auch Studierende nahmen am Streik teil. In Delhi hatten der Lehrerverband der Universität Delhi (DUTA) und die Studentenvereinigung der Jawaharlal Nehru University (JNUSU) den zweitägigen Streik unterstützt. Obwohl die JNUSU den Studierenden nahegelegt hatte, sich nicht an »militanten Ak­tionen« zu beteiligen, kam es auch hier zu Auseinandersetzungen.
Für Premierminister Modi kommt der Streik besonders ungelegen. In diesem Jahr soll das indische Parlament neu gewählt werden und er muss um seine Wiederwahl bangen. Schätzten im Jahr 2017 noch 69 Prozent der Wähler seine Politik, so sind es im November 2018 nur 46 Prozent. Währenddessen gewinnt die sozialliberal und sä­kular orientierte oppositionelle Kongresspartei unter Rahul Gandhi an ­Zustimmung. Jüngste Umfragen deuten darauf hin, dass die BJP ihre ab­solute Mehrheit im Parlament verlieren könnte – auch weil sich immer mehr Beschäftigte der INC zuwenden. Der General­sekretär der südindischen Gewerkschaft Labour Progressive Federation, Mohan Shanmugam, sagte: »Die Kongresspartei würde uns wenigstens zuhören und handeln. Aber die BJP hört nicht auf die Arbeiter.« Finanzminister Shri Arun Jaitley von der BJP sieht beim Streik indes eine Verschwörung am Werk. In einer Pressemeldung fragte er: »Gibt es gerade wirklich Probleme oder ist er (der Streik, Anm. d. Red.) Teil der Strategie der politischen Linken, um Unruhe zu stiften?« Er ergänzte: »Wenn die Gewerkschaften der Linken darauf bestehen, die Gewerkschaftsbewegung zu politisieren, um gegen nicht existierende Probleme zu protestieren, müssen die Arbeiter im Land ernsthaft analysieren, was die ­jetzige Regierung für sie getan hat, und es mit den relativ geringen Fortschritten unter vergangenen Regierungen vergleichen.«

Viele Arbeiterinnen und Arbeiter scheinen aber genau dies zu tun – und wenden sich von der BJP ab. Das liegt auch an Modis Arbeitsmarktpolitik. Er hatte zwar stets betont, sich für die ­Beschäftigten einsetzen zu wollen, doch ist von diesen Versprechen wenig übrig geblieben. Der Think Tank »Centre for Monitoring Indian Economy« (CMIE) veröffentlichte kürzlich einen Bericht, aus dem hervorgeht, dass rund elf Mil­lionen Menschen im vergangenen Jahr ihre Arbeit verloren haben. Zudem liegt – trotz eines jährlichen Wirtschaftswachstums von über sieben Prozent – die Arbeitslosenrate nach offiziellen Angaben stabil bei rund zehn Prozent. Tatsächlich dürfte sie weit höher liegen, da Beschäftigte im informellen Sektor und ländlichen Bereich, Frauen und Gelegenheitsarbeiter nicht in der Statistik auftauchen. Ebenso sind dem CMIE zufolge Forderungen der Gewerkschaften wie die nach einem landesweiten Mindestlohn nie erfüllt worden.

Bis zur Wahl bleibt den Gewerkschaften noch Zeit, ihre Mitglieder weiter zu mobilisieren. Tapan Sen von der CITU fasst dies so zusammen: »Auch nach dem Streik muss die organisierte Zusammenarbeit der Arbeiterklasse mit den Bauern, Landarbeitern und anderen Bevölkerungsgruppen fortbestehen.« Für den Tag der Solidarität der Arbeiter und Bauern am 19. Januar sind bereits Aktionen geplant.