Jihadisten wähnen sich in der Sub­sahara auf einer imperialen Mission

Tödliche Mission

Die Destabilisierung der Staaten der Sahel-Zone durch jihadistische Bewegungen ist kein unabwendbares Schicksal.
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Nicht nur christliche Europäer haben sich eine »zivilisatorische Mission« in Afrika zugesprochen. In seinem 1964 erstmals veröffentlichten Buch »Wegzeichen« schrieb Sayyid Qutb: »Als der Islam ins Zentrum Afrikas kam, kleidete er nackte Menschen, sozialisierte sie, holte sie aus tiefer Isolation und lehrte sie die Freude an der Arbeit.« Qutb ist der bedeutendste Theoretiker des militanten Islamismus, aus seinen Lehren entwickelte sich die Ideologie von al-Qaida und des aus dieser Organisation hervorgegangenen »Islamischen Staates«. Deren Aktivitäten im subsaharischen Afrika beruhen nicht nur auf Qutbs Geschichtsfälschung, sie sehen sich auch als Träger einer neuen zivilisatorischen Mission. Die Schwarzen, die ihnen als »schwache Muslime« gelten, sollen zur strikten Befolgung der Sharia bekehrt oder gezwungen werden.

Islamismus und Jihadismus könnten an Einfluss gewinnen. Ihre Basis ist die Mittelschicht, und wenngleich es je nach Maßstab sehr unterschiedliche Angaben über deren Bevölkerungsanteil gibt, wächst sie ohne Zweifel – und mit ihr die Zahl der angry young men, die keinen ihrem Ehrgeiz entsprechenden Platz in der Gesellschaft finden.

Vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert gab es auch in der Sahel-Zone dem saudischen Wahhabismus vergleichbare islamisch-fundamentalistische Bewegungen. Diese Ideologie blieb jedoch nur in Nordnigeria ein relevanter gesellschaftlicher Faktor, sie wurde nach der Unabhängigkeit von der regionalen Oligarchie im Machtkampf mit den Konkurrenten aus dem Süden genutzt. In Nordnigeria kam es bereits 1980 zum Aufstand einer den Taliban vergleichbaren Bewegung, bei dessen Niederschlagung die Luft­waffe eingesetzt wurde und mehr als 4 000 Menschen starben. In neun Bundesstaaten Nordnigerias gilt die Sharia. Ansonsten aber blieb das subsaharische Afrika von der ersten Welle des Islamismus und Jihadismus weitgehend verschont. 20 Jahre vor den arabischen Revolten fasste auch in überwiegend muslimischen Staaten die Demokratiebewegung Fuß, und sie war erfolgreicher als im ­Nahen Osten. Dass Islam und Demokratie vereinbar sind, beweist der zu mehr als 90 Prozent muslimische Senegal. Dort hat sich die parlamentarische Demokratie gefestigt.

Dies war möglich, weil die Jihadisten nicht ganz unrecht haben. Die Mehrheit der Muslime im subsaharischen Afrika ist gesellschaftspolitisch konservativ, will aber von puritanischer Verbotspolitik nichts wissen und folgt im Alltag der Ansicht, dass ein barmherziger Gott den Genuss eines Bieres und ein wenig außerehelichen Sex sicher verzeihen werde. Diese Haltung herrschte allerdings einst auch in den meisten Regionen der arabischen Welt vor, dort setzte der Druck nur viel früher ein – ausgeübt zunächst von Re­gierungen, die Rechtgläubigkeit durchsetzen wollten, dann von einer stärker werdenden islamistischen Bewegung.. Nun wächst die Gefahr, dass auch die Muslime des subsaharischen Afrika unter die Herrschaft einer extrem strengen Auslegung der Sharia gezwungen werden.

Die politische Basis für einen solchen Wandel ist weiterhin dünn. Es gibt keine islamistischen Organisationen, deren Einfluss dem der Muslimbruderschaft in arabischen Staaten vergleichbar wäre. Die »zivilisatorische Mission« nimmt daher oft den Charakter ­einer ausländischen Intervention an. Für den Terror in Kenia sind Jihadisten aus dem benachbarten Somalia verantwortlich. Ohne ­libysche Söldner und islamistische Kämpfer aus aller Welt hätten die wenigen Jihadisten aus Mali es nicht geschafft, Nordmali zeitweilig zu erobern und dauerhaft zu destabilisieren.

Während der jihadistischen Herrschaft kam es zu rassistischen Übergriffen. Die Journalistin Lindsey Hilsum berichtete, dass »die zu harten Strafen Verurteilten alle schwarze Malier waren – Sonrai, Peul, Bamba und Della, traditionell die Sklaven«. Der jihadistische Bataillonskommandant Hicham Bilal desertierte mit der Begründung, seine aus Schwarzen bestehende Truppe sei für seine Vorgesetzten »weniger wertvoll als weiße Araber« gewesen.

Dennoch könnten Islamismus und Jihadismus an Einfluss gewinnen. Ihre Basis ist die Mittelschicht, und wenngleich es je nach Maßstab sehr unterschiedliche Angaben über deren Bevölkerungsanteil gibt, wächst sie ohne Zweifel – und mit ihr die Zahl der angry young men, die keinen ihrem Ehrgeiz entsprechenden Platz in der Gesellschaft finden. Für sie kann der Islamismus ein verlockendes Angebot sein, mag er auch einige Unbequemlichkeiten mit sich bringen. Der Islamismus ist die Ideologie der konformistischen Rebellion, im Namen der »wahren Religion« können die Söhne zum Machtkampf gegen die Väter antreten und sich als Alterna­tive zu deren korrupter Herrschaft empfehlen. Dem autoritären Charakter, der sich mit dem Patriotismus in machtlosen Staaten nicht zufriedengeben mag, bietet sich zudem die Möglichkeit, sich einer größeren Sache, einem militanten imperialen Projekt, an­zudienen.

Unter den Islamisten der Sahel-Zone ist der Anteil der Mitglieder in bewaffneten Gruppen deutlich höher als in anderen Regionen der Welt. Es erscheint ihnen nicht nötig, sich jahrzehntelang mit Propaganda und Klientelbildung um einen Wahlerfolg oder wenigstens eine breite gesellschaftliche Basis zu bemühen, bevor man eine Diktatur errichtet. Noch immer sind die meisten Staaten der Sahel-Zone schwach institutionalisiert, auch ihre Armeen sind zumeist klein und schlecht ausgerüstet. Es ist wesentlich leichter als in den meisten anderen Regionen der Welt, Territorien zu erobern oder zumindest Rückzugsgebiete zu kontrollieren, die als Basis für weit ausgreifende Offensiven auch in Nachbarländern dienen können.

Auch von der »internationalen Gemeinschaft« haben die Jihadisten wenig zu befürchten. US-Präsident Donald Trump lästert über »shithole countries«, für die EU hat die Migrationsabwehr Priorität in der Afrika-Politik. Allenfalls engagiert man sich militärisch – also wenn es eigentlich schon zu spät ist. Wichtiger wären eine institutionelle Stärkung der Sahel-Staaten und die Unterstützung der in den meisten Staaten noch nicht abgeschlossenen Demokratisierungsprozesse. Die Destabilisierung durch den Jihadismus ist kein unabwendbares Schicksal.

Stattdessen könnten die Sahel-Staaten ein Vorbild für die demokratische Säkularisierung der ­islamischen Welt werden. Das wäre dann wirklich mal eine zivilisatorische Mission.