In russischen Haftanstalten wird gefoltert

Wasser, Brot und Folter

Erneut sind Fälle von Folter in russischen Gefängnissen und Strafkolonien bekannt geworden. Zwar arbeiten russische Behörden diese mittlerweile auf – dass sich an der grassierenden Korruption und der Rechtlosigkeit in den Gefängnissen etwas ändert, ist aber unwahrscheinlich.

Die Bilder sind schockierend. Am Montag veröffentlichte die russische Zeitung Nowaja Gaseta im Internet Videos, die zeigen, wie Gefangene in der Strafkolonie in der Stadt Jaroslawl gefoltert werden. Die Videos habe die NGO ­Public Verdict der Zeitung zugespielt und sie seien von Häftlingen im Ok­tober 2016 und Anfang 2017 aufgenommen worden.

Bereits im Juli 2018 hatte Nowaja Gaseta ein zehnminütiges Video veröffentlicht, das zeigt, wie ein Insasse der Strafkolonie 1 in Jaroslawl gefoltert wird: Circa ein Dutzend Gefängniswärter stehen in dem sogenannten Erziehungssaal der Anstalt. In der Mitte stehen zwei Tische. Zwei Wärter drücken den Insassen Jewgenij Makarow darauf. Er wird gezwungen, auf dem Bauch zu liegen. Er trägt keine Hose. Mit Schlagstöcken und mit Fäusten schlagen Wärter ihm auf die nackten Fußsohlen und die Beine, womöglich auch auf den Oberkörper. Genau erkennbar ist das nicht. Sie schütten ihm mit Eimern Wasser über den Kopf. Die Tür steht offen. Einige Wärter stehen gelangweilt dabei und schwatzen.

Bis heute wurde das Video 2,8 Millionen Mal auf Youtube aufgerufen. Gegen alle im Raum Anwesenden sind Strafverfahren eingeleitet worden, die meisten von ihnen sind in Untersuchungshaft. Der damalige Anstaltsleiter steht unter Hausarrest. Infolge der Veröffentlichung erkannte selbst der russische Präsident Wladimir Putin auf seiner Jahrespressekonferenz an, dass es Folter in russischen Gefängnissen gibt und dass etwas dagegen getan werden müsse.

Ruslan Wachapow, 37 Jahre alt, verbrachte fünfeinhalb Jahre in der Strafkolonie 1. Sein Vergehen: Er hatte an den Straßenrand uriniert und war von Kindern dabei beobachtet worden. Als das Foltervideo aufgenommen wurde, saß er in einer Zelle derselben Straf­kolonie, nach eigener Aussage direkt gegenüber des »Erziehungssaals«. Auch er sei zusammengeschlagen worden, so heftig, dass er seine Hose nicht mehr eigenhändig habe anziehen können, erzählt er. Derzeit arbeitet er für die Stiftung Rus Sidjaschaja (Russland hinter Gittern), die die Rechte russischer Häftlinge verteidigt. Was Wachapow von den russischen Gefängnissen erzählt, deutet an, dass die strafrechtlichen Ermittlungen infolge des 2018 veröffentlichten Videos wohl kaum alle Menschenrechtsverletzungen aufklären, die an diesen Orten geschehen.

Wachapow kämpfte seit seiner Ankunft in der Strafkolonie im Jahr 2013 darum, dass die dortigen Zustände bekannt werden. Geholfen hat ihm dabei, dass in der Strafkolonie seit 2015 auch ein prominenter Gefangener saß: Iwan Nepomnjaschtschich war an den Massenprotesten auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz im Winter 2011/2012 beteiligt, als allein in Moskau Hunderttausende gegen Wahlfälschungen sowie Dmitri Medwedjews und Putins Rochade an der Staatsspitze auf die Straße gingen. Nepomnjaschtschich wurde in einem umstrittenen Urteil wegen »Beteiligung an Massenunruhen« und »Anwendung von Gewalt gegen die Staatsmacht« zu zweieinhalb Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Dank ihm hatten liberale Medien ein Auge auf die Zustände in der Jaroslawler Strafkolonie – andernorts geht es allerdings deutlich schlimmer zu. Nach seiner Freilassung im August 2017 beantragte Nepomnjaschtschich Asyl in Tschechien, er studiert derzeit Physik in den USA.

Wachapow sammelt nun Geld und Second-Hand-Kleidung für Häftlinge in den Jaroslawler Gefängnissen. Er versucht, Rechtshilfe und öffentliche Aufmerksamkeit zu organisieren. Die Prügeleien der Wärter hätten zumindest in der Strafkolonie 1 aufgehört, nachdem das Video 2018 veröffentlicht worden war, sagt er. Mitten im Interview in einem Café in Jaroslawl erreicht ihn eine SMS eines Gefangenen in einer anderen Strafkolonie: Wärter hätten den Mann verprügelt und ihn angeschrien, es gebe niemanden, der ihm helfen könne.

»Du wirst im Namen von Recht und Ordnung verurteilt. Dann kommst du in ein System, in dem vor deinen Augen ständig Unrecht geschieht. Und du kannst nichts dagegen tun.«
Ruslan Wapachow, ehemaliger Häftling

Zu den ersten Eindrücken aus seiner eigenen Zeit im Gefängnis gehöre die allgegenwärtige Korruption, angefangen in den Kantinen. »Sie servieren
in der Regel getrockneten, aufgekochten Kohl«, sagt Wachapow. »Meistens gibt es nicht einmal Kartoffeln, obwohl die hier in der Gegend wachsen würden. Über das Internet kann man die Regeln zur Ernährung in Gefängnissen leicht herausfinden. Von all den Dingen, die dort aufgelistet sind, geben sie uns vielleicht fünf Prozent. Es ist ziemlich offensichtlich für die Insassen, wie auf allen Ebenen gestohlen wird. (...) Aus den Produkten, die für die Gefangenen bestimmt sind, wird Essen für die Angestellten gekocht.« Er habe damals ausgerechnet, dass allein in der Kantine jährlich sechsstellige Summen unterschlagen werden.

Im November sorgten Bilder aus der Strafkolonie 3 im Gebiet Amur für ­einen Skandal, die die Zeitung Komsomolskaja Prawda veröffentlicht hatte. Sie sollen aus dem Jahr 2015 stammen und zeigen das inhaftierte Bandenmitglied Wjatscheslaw Zepowjas dabei, wie es Hummer und Kaviar isst. Diese und andere Annehmlichkeiten soll sich der mehrfache Mörder erkauft haben.

Für andere Häftlinge sind dagegen Folter und Isolation an der Tagesordnung. Der Strafisolator im Gefängnis, ein gesondert abgeriegeltes Gebäude, sei weniger dazu da, Fehlverhalten zu sanktionieren, erzählt Wachapow. Wenn es in den normalen Zellen keine Plätze mehr gebe, weil neue Leute ankommen, dann »packen sie oft einfach mal 50 Leute in den Strafisolator. Es finden sich immer irgendwelche Gründe. Zum Beispiel ist irgendwas an deiner Kleidung falsch. In meinem letzten Jahr im Gefängnis war ich 54 Mal im Strafisolator. Meistens für fünf bis zehn Tage.« Lange habe es im Strafisolator kaum etwas zu essen gegeben. Dreimal täglich habe man dort 180 Gramm Brot und circa 0,3 Liter Wasser bekommen, alles andere sei in einem Aluminiumteller serviert worden. Den ungeschriebenen Gesetzen der russischen Gefängnisse zufolge würden allerdings nur Homosexuelle von Aluminiumtellern essen, so Wachapow. »Das ist der niedrigste soziale Status in der Gefängnissubkultur.« So hätten sich manche Gefangene lieber 180 Tage lang von kleinen Mengen an Wasser und Brot ernährt. »Dann haben sie einen Gefangenen so heftig zusammengeschlagen, dass er im Krankenhaus gestorben ist. Damit wir das nicht skandalisieren, haben sie uns erlaubt zu essen. Sie haben zwar gesagt, dass das nicht für lange so bleiben wird. Doch bis heute hat sich nichts geändert. Ein halber Sieg.«

Den Insassen des Strafisolators drohten zudem Prügel von sogenannten Speznas, Sondereinheiten, die untersuchen sollen, ob die Sicherheit der Angestellten gewährleistet ist. Wachapows Erfahrung sei, dass diese einfach die Häftlinge verprügeln. In den toten Winkeln der Überwachungskameras würden sie den Insassen mit Schlägen, Tritten und Schlagstöcken große Schmerzen zufügen. Dies unterscheide sich von der alltäglichen Gewalt im Gefängnis darin, dass die Speznas »technisch geschult« seien. »Diese Leute wissen, wie sie dir maximale Schmerzen zufügen. Aber sie brechen keine Knochen. Sie verstümmeln niemanden«, so Wachapow.

Die alltägliche Gewalt, wie man sie in dem von der Nowaja Gaseta veröffentlichten Video sehen kann, gehe von Personen aus, die »wie Bauern zuschlagen«. Wachapow kenne Fälle, in denen Häftlinge totgeprügelt worden seien. 2017 seien acht Gefangene unter merkwürdigen Umständen gestorben. »Sie legen dann einen Häftling so in seine Zelle, als sei er vom Bett gefallen. Bei einem jungen Kampfsportler haben sie einmal Tod durch Herzversagen diagnostiziert.« Milzrisse und andere schwere Verletzungen, die Prügelangriffe häufig nach sich ziehen, würden so nicht bekannt. Überlebenden solcher Angriffe werde eine Verkürzung der Haftzeit im Austausch dafür angeboten, dass sie keine Anzeige stellen. Auch Wachapow sei angeboten worden, ein Jahr vor Ende seiner Haftzeit tagsüber Freigang zu bekommen, wenn er seine Anzeige zurückzieht. Doch er habe ­abgelehnt.

Dass Folter in russischen Gefängnissen und auch bei Gefangenentransporten häufig ist, bestätigen Berichte von Amnesty International. So heißt es im Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation 2017/2018 über die Russische Föderation etwa, einige Gefangene seien wochen- oder monatelang in überfüllten Eisenbahnwägen unterwegs, während Familien und Anwälte keine Informationen über deren Verbleib hätten.

Öffentliche Aufsichtskommissionen seien unter­finanziert. Gefängnisleitungen verweigerten unabhängigen Beobachtern, etwa Vertretern jener Aufsichtskommissionen und des präsidentiellen Menschenrechtsrats, willkürlich den Zugang zu Haftanstalten.
Wachapow wirkt wütend und desillusioniert von seiner Arbeit für die Stiftung Rus Sidjaschaja und seiner Zeit im Gefängnis. Es sei sehr schwierig, Spenden zu sammeln.

Die Menschen in Russland verstünden nicht, dass »80 Prozent der Gefängnisinsassen normale Leute von der Straße« seien, so Wachapow. Für seine Arbeit habe er kaum Ressourcen und sein Gehalt sei deutlich geringer im Vergleich zu dem, was er früher als Fahrer von Schwer­transportern verdient habe. Es gebe viele Dinge, die er noch nicht erzählen könne, selbst nicht seiner Frau. Am meisten belastet habe ihn im Gefängnis die riesige Ohnmacht: »Du wirst im Namen von Recht und Ordnung verurteilt. Dann kommst du in ein System, in dem vor deinen Augen ständig Unrecht geschieht. Und du kannst nichts dagegen tun.«