Der Attentär im neuseeländischen Christchurch hatte sich in rechtsextremen Foren herumgetrieben

Massenmord und große Pläne

Ein Rechtsextremer erschoss im neuseeländischen Christchurch mindesten 50 Moscheebesucher. Das Livestreaming des Mordens und ein Pamphlet sollten seiner Tat internationale Wirkung verleihen.

Eine der erfolgreichsten Verschwörungstheorien ist die vom Bevölkerungs­austausch, der von den Mächtigen dieser Welt initiiert worden sei, um Europa und die USA zu islamisieren beziehungsweise zu multikulturalisieren. Nun lieferte sie erstmals das Motiv für ­einen Terroranschlag: Der Titel des kurz vor der Tat online veröffentlichten ­sogenannten Manifests des mutmaßlichen Massenmörders, der am Freitag voriger Woche 50 Muslime in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch erschoss, lautet »Der ­große Austausch«, darunter prangt das aus drei Hakenkreuzen übereinander bestehende Nazisymbol der schwarzen Sonne.

Was Brenton Tarrant, den mutmaßlichen Täter von Christchurch, antrieb, ist damit auch schon erklärt: Er sieht die westliche Welt von Nichtweißen und Nichtchristen, vor allem Muslimen, überrannt (gegen Juden habe er nichts, solange sie in Israel bleiben, schreibt er an einer Stelle). Und er hoffte, mit seinen Taten einen großen, entscheidenden Krieg gegen die vermeintlichen Invasoren einzuleiten. Er sei kein Anführer, sondern lediglich ein Partisan, schreibt Tarrant, was nicht unbedingt ernst zu nehmen ist, denn immer wieder verfällt er in einen churchillesken Ansprachetonfall, in dem er unter anderem verkündet, dass er keinen Sieg garantieren könne. Das hatte ohnehin niemand von ihm erwartet, bis er zum Mörder und Terroristen wurde.

Das Manifest bietet eine Mischung aus staatsmännischer, pompös-lächerlicher Einpeitschungsrhetorik, weiner­lichen Klagen über das bisherige Versagen weißer Männer und unverhohlener Selbstüberschätzung. So schreibt Tarrant: »Ich erwarte, in 27 Jahren wieder freizukommen, also in derselben Anzahl von Jahren wie Nelson Mandela.« Mandela sei noch dazu für dieselben Taten verurteilt worden, wie er Tarrant für sich erwartet. In seiner Jugend sei er zuerst Kommunist, dann Anarchist und Libertärer gewesen, bevor er zum Ökofaschisten geworden sei, schrieb er in der seinem Manifest vorangestellten Q & A-Sektion. Ehemalige Klassenkameraden berichten dagegen übereinstimmend, dass er sich nie für Politik interessiert, sondern die meiste Zeit im Fitnessstudio verbracht habe.

Ohnehin wirkt das Manifest stellenweise wie ein Bewerbungsschreiben für die Aufnahme ins Massenmörder-Nazi-Walhalla. Der Täter stilisiert sich darin kontrafaktisch zu einem früh politisierten Menschen, der schließlich die Wahrheit erkannt habe – mit der seitenlangen Selbstdarstellung wollte er wohl, falls er getötet wird, festhalten, wie ihn die Nachwelt sehen soll. In einigen im Text verstreuten Sätzen beschreibt Tarrant, was er sich von seiner Tat erhofft habe: den politischen Gegner zu Reaktionen und vor allem zu Über­reaktionen zu provozieren, die einen gewaltigen Backlash zur Folge hätten; Gewalt, Vergeltung und eine weitere gesellschaftliche Spaltung in Europa auszulösen; die Nato und die darin organisierten europäischen Länder sowie die Türkei zu entzweien und die Auseinandersetzungen über das Thema Waffenbesitz in den USA zur Eskalation und das Land in einen Bürgerkrieg zu treiben. Um die größtmögliche Medienpräsenz zu erreichen, habe er sich letztlich für Anschläge mit Schusswaffen entschieden, schreibt er.

Dass er die Morde livestreamen werde, erwähnte er nicht im Manifest – vielleicht rechnete er damit, dass Facebook die Übertragung vorzeitig abbrechen würde. Oder er wusste nicht, wie schwierig es für die Mitarbeiter der Plattform sein würde, das einmal verbreitete ­Video wieder zu löschen. 29 Minuten hatte es gedauert, bis der erste User die Aufnahme meldete, 1,5 Millionen Mal war sie in den folgenden 24 Stunden geteilt worden. Besondere Schwierigkeiten bereitete bei der Löschung ein Automatismus, der dem Kampf gegen fake news dienen sollte: Auch zahlreiche Facebook-Seiten von als seriös eingestuften Medienunternehmen verbreiteten das Video oder Ausschnitte daraus. Deshalb ordnete der Facebook-Algorithmus den Inhalt zunächst automatisch als nicht löschpflichtig ein. So wirkt der Täter während der Liveübertragung auch eher wie ein kaltblütiger, seine Arbeit erledigender Krieger denn wie ein von Hass zerfressener Mörder. Ruhig und wortlos zielt er auf die Menschen in der Moschee. Und er versucht, etwaige sich tot stellende Überlebende in Sicherheit zu wiegen, indem er den Raum verlässt, um kurz darauf wiederzukehren und erneut Salven auf die am Boden Liegenden ab­zufeuern.

Viele Stellen seines Manifests scheinen für ein internationales Presseecho geschrieben zu sein. Vor allem im »Section II« betitelten Sammelsurium aus Möchtegern-Ansprachen an diverse Bevölkerungsgruppen sind immer wieder kurze Behauptungen eingebaut, von denen Tarrant sicher sein konnte, dass sie in diversen Ländern maximale Aufregung und Aufmerksamkeit erregen würden. Und so kam es auch: Der Aufruf, unter anderem Angela Merkel, »die Mutter aller antiweißen, antideutschen Dinge«, zu töten, landete um­gehend auf den Titelseiten deutscher Presseorgane.
In Schweden empörte man sich über die Bezugnahme auf Ebba Åkerlund. Ein Bild des 2017 in Stockholm nach einem jihadistischen Terroranschlag mit einer Plane bedeckt auf der Straße liegenden Leichnams des Mädchens hatte der Täter als Header-Bild seines Twitter-Accounts benutzt, ihren Namen hatte er auf eine seiner Waffen geschrieben. Ebbas Mutter Jeanette ­Åkerlund äußerte sich entsetzt darüber, »dass sie für politische Propaganda missbraucht wird – dieser Terroranschlag ist das Gegenteil von dem, ­wofür Ebba sich einsetzte«. Anhänger der schwedischen Neonazibewegung Nordiska motståndsrörelsen (NMR) feierten den Terror von Christchurch ­dagegen umgehend. Deren Anführer Simon Lindberg schrieb auf der NMR-Homepage, der Täter habe »seine Opfer mit Bedacht gewählt«, um »keine total Unschuldigen zu töten«. Die antirassistische und antifaschistische schwedische Zeitschrift Expo dokumentierte bereits einen Tag nach dem Massenmord, wie begeistert NMR-Mitglieder reagierten. »Das ist meine Überzeugung, dass der Kampf mehr als Worte braucht«, schrieb etwa ein älterer Mann, »die Zeit für einen Rassenkrieg ist gekommen, ich bin darauf seit ­Jahren vorbereitet und meine Sehnsucht danach war immer enorm.«

In Norwegen wurde ein kurzer Satz aus dem Manifest am meisten diskutiert: Tarrant schrieb, er habe Kontakt zu »Ritter Breivik« gehabt, der nach Rücksprache mit seinen Ritterbrüdern seiner geplanten »Aktion« Erfolg ­gewünscht habe. Das war gelogen, wie das norwegische Justizministerium mitteilte, denn die Kontakte des rechts­extremen norwegischen Massenmörders Anders Breivik werden seit Bekanntwerden eines Briefwechsels mit Beate Zschäpe genau überwacht. »Breivik schreibt zwar vielen Leuten und viele Briefe werden an ihn geschickt, aber sie kommen alle nicht an«, hieß es dazu.

Bereits kurz nach den Anschlägen wurde das Manifest Tarrants weltweit analysiert, wobei Politiker, Privatpersonen und in vielen Fällen auch Experten zu einem nicht eben überraschenden Ergebnis kamen: Auslöser für die Taten konnte nur der jeweilige vermeintliche Gegner sein. Sicherheitshalber hatte der Terrorist seine an oder gegen diverse Gruppen gerichteten Erklärungen jeweils noch mit kurzen Merksätzen und Slogans beendet, die sich, so vermutlich sein Kalkül, gut zu Memes verarbeiten lassen würden. Dass der Täter die Imageboards 4chan und 8chan, Ursprung vieler Memes, für die Ankündigung seiner Taten nutzte, kommt vermutlich ebenfalls nicht von ungefähr, denn gelöscht werden Postings dort nur sehr selten. Ob er dort aktiv war oder gar beeinflusst wurde, ist nicht klar. Auf 8chan, der Web­site der Anhänger der Qanon-Verschwörungstheorie, wurde kurz nach den Taten umgehend damit begonnen, Memes und fake news zu produzieren, die zeigen sollten, dass der Massenmord in Wirklichkeit ein false flag-Anschlag des »tiefen Staats« gewesen sei. Eines der ersten war ein Bildchen, das nachweisen sollte, dass die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern die beste Freundin der verhassten Hillary Clinton sei. Es war aber wohl selbst für Qanon-Verhältnisse zu blödsinnig, so dass es keine Verbreitung fand. Der mutmaßliche Täter von Christchurch geht allerdings in seinem Manifest mit keinem Wort auf Qanon ein.

Wie weit die Verschwörungstheorie reicht, zeigte sich hingegen in einem anderen Fall: Der mutmaßliche Täter im ersten erfolgreichen Mordanschlag auf einen Mafia-Boss in New York seit mehr als 30 Jahren erschien am Montag vor Gericht. Der junge Mann hatte das Oberhaupt des Gambino-Clans, Francesco Cali, ersten Ermittlungen zufolge getötet, weil der eine Beziehung mit seiner Nichte untersagt hatte. Der mutmaßliche Mörder erschien mit auf den Händen aufgemalten MAGA- (für Donald Trumps Slogan »Make America Great Again«) und Qanon-Schriftzügen.