Gewalt gegen türkische Oppositionelle

Ein Lynchmob kommt selten allein

In der Türkei leben Oppositionelle immer gefährlicher. Nun wird die Bevölkerung gezielt gegen politische Gegner aufgehetzt.

Die sozialpsychologischen Grundlagen für die Bildung eines Lynchmobs sind in der gegenwärtigen Türkei längst gelegt und jederzeit ist eine spontane oder auch organisierte Meute möglich. Gezielt werden Bevölkerungsteile gegen Minderheiten oder politische Gegner aufgehetzt; aus politischen Rivalen werden Feinde, die zum Abschuss freigegeben werden; aus Nachbarn werden bedrohliche Verräter, die es zu meiden und an die Behörden zu melden gilt. So durchziehen die jüngere Geschichte der Türkei eine Mehrzahl von Pogromen gegen Minderheiten und unaufgeklärten Attentaten auf politische Gegner, die alle nach einem bewährten Muster verlaufen. Erst tritt eine Kampfpresse in Aktion, agitiert den Volkswillen und verhetzt Willige. Dann schreiten im Namen des Volkes dessen Vollstrecker zur Tat. Schließlich werden die Ermittlungen gegen die Tatverdächtigen zögerlich geführt, gar verhindert und oftmals kommen dann die Täter ungestraft davon.

Führer der Opposition als »Terrorist« und »Vaterlandsverräter«
Jüngst traf es den Oppositionsführer der CHP Kemal Kılıçdaroğlu, der während des Wahlkampfs wiederholt als »Terrorist« und »Vaterlandsverräter« beschimpft und zum Feindbild erklärt wurde. Nach den Verlusten der Großstädte İstanbul und Ankara bekam er nun die angekündigte Rache zu spüren.

Während Kılıçdaroğlu am 21.04.2019 ein Soldatenbegräbnis in Çubuk, nahe Ankara besuchte und vor Ort von einem wütenden Mob erst beleidigt, drangsaliert, und schließlich mit Tritten und Schlägen angegriffen wurde, sodass dieser in ein Haus flüchten musste, die Meute dann stundenlang das Haus belagerte, in das Haus einzudringen versuchte und mindestens eine Frau vor dem Haus der Hetzmeute zurief: »Brennt dieses Haus nieder!«, fand zeitgleich in İstanbul/Maltepe die Siegesfeier von Ekrem İmamoğlu mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern statt. Man mag sich nicht vorstellen, was in İstanbul geschehen wäre, wenn Kılıçdaroğlu dem Lynchmob in die Hände gefallen, gar im Haus, in das er flüchtete, verbrannt worden wäre.

Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand
Es gibt erste Anzeichen, dass die beiden Ereignisse vom vergangenen Sonntag nicht zufällig zeitgleich geschahen und es berechtigte Gründe gibt, der Behauptung einer spontanen Mobbildung zu misstrauen. Nur allzu gern würde Erdoğan den Ausnahmezustand ausrufen, um per Dekret unbeliebte Bürgermeister durch einen Zwangsverwalter zu ersetzen, wie dies bereits mehrfach insbesondere im Südosten der Türkei geschehen ist. Doch soweit kam es vorerst nicht.

Istanbul ist schließlich, wie im Wahlkampf wiederholt verkündet, eine Geliebte, und eine Geliebte, die keine Liebe erwidert, darf es nicht geben.

Der zuständige Innenminister Süleyman Soylu verneinte stattdessen bereits einen Tag nach dem Lynchversuch eine organisierte Struktur, beschwichtigte die Tat als eine Reaktion auf die Provokationen des »Terroristensymphatisanten« Kılıçdaroğlu und konnte keine Erklärung dafür geben, wie es einem Lynchmob gelang, unter Anwesenheit von über 450 Sicherheitskräften stundenlang in einem überschaubaren Dorf zu wüten.

Deutlicher wurde der in Çubuk anwesende Verteidigungsminister Hulusi Akar, der mit einem Polizei-Megaphon der Meute zurief: »Liebe Freunde, eure Message ist angekommen. Nun könnt ihr alle beruhigt nach Hause gehen«. Im nationalchauvinistischen Lager konnten sich die Ülkü Ocakları derweil vor Freude nicht zurückhalten, denn sie verstanden sehr wohl, von welcher »Message« Akar sprach. Ihr Vorsitzender Sinan Ateş war sich mit vielen anderen Kommentatoren darin einig, dass Kılıçdaroğlu die »Warnung« an ihm nicht verstanden hätte, denn beeindruckt oder eingeschüchtert gab sich Kılıçdaroğlu nach der Tat, die er nur mit Glück überlebte ganz und gar nicht.

Anruf bei »Onkel Osman«
Routinierter klang der Führer der MHP Devlet Bahçeli, der sich einige Tage zuvor mit Recep Tayyip Erdoğans Ankündigung eines neuen Bündnisses ohne die MHP auseinandersetzen musste und insgeheim auf den Mob vertraut haben musste: »Was hast du, Kılıçdaroğlu auch in Çubuk zu suchen? Das ist unsere Hochburg.«

Es durchziehen die jüngere Geschichte der Türkei eine Mehrzahl von Pogromen gegen Minderheiten und unaufgeklärten Attentaten auf politische Gegner.

Es waren Versuche wie diese, die abscheuliche Hetzmeute von Çubuk nachträglich zu legitimieren und Kılıçdaroğlu als eigentlichen Provokateur hinzustellen. Es ist kein Zufall, dass insbesondere aus dem AKP-MHP-Lager Solidaritätsadressen zu hören sind, die für den tatverdächtigen Schläger, der AKP-Mitglied ist Partei ergreifen.

Metin Külünk, ein umtriebiger AKP-Abgeordneter mit einem Gespür für das Grobe und Verbindungen in die organisierte Kriminalität bedankte sich per Twitter bei dem Schläger Osman Sarıgün, und verkündete stolz: »Ich habe gestern Nacht um 00:50 Uhr Onkel Osman angerufen und ihm im Namen des Volkes gute Besserung gewünscht. Es schmerzt, dass Onkel Osman Sarıgün nun aus unserer Partei ausgeschlossen werden soll. Unser Volk ist aber entschieden gegen einen Ausschluss.« 

Die Rückeroberung Istanbuls
Dieser Vorfall von Çubuk hat mit der rachsüchtigen Missstimmung im AKP-MHP-Lager zu tun. Die Niederlage in İstanbul hat Recep Tayyip Erdoğan und seine Verbündeten unvorbereitet getroffen und sie können ihre Niederlage einfach nicht eingestehen. İstanbul ist schließlich, wie im Wahlkampf wiederholt verkündet eine Geliebte, und eine Geliebte, die keine Liebe erwidert, darf es nicht geben. Also wird jedes Mittel benutzt, um die Liebe zu erzwingen, gar mit Nachwahlen oder eben mit Drohkulissen wie in Çubuk.

Ekrem İmamoğlu hat als erste Maßnahme die Streichung aller Fördergelder für AKP-nahe islamische und islamistische Stiftungen und Organisationen angeordnet.

Solche Androhungen und Spekulationen auf bürgerkriegsähnliche Zustände gehören in jedes Repertoire von autoritären Regimen, die sich vor Machtverlust fürchten. Dabei stellte sich bereits in den ersten Tagen nach der Kommunalwahl vom 31. März 2019 heraus, wie unentbehrlich İstanbul für die Bewegung und ihre Yandaş, Gesinnungsgenossen wirklich ist. So hat Ekrem İmamoğlu als inzwischen offiziell im Amt bestätigter Oberbürgermeister İstanbuls als erste Maßnahme die Streichung aller Fördergelder für AKP-nahe islamische und islamistische Stiftungen und Organisationen angeordnet und damit eine jährliche Umverteilung von etwa 850 Millionen Lira (ca. 130 Millionen Euro) aus dem Budget İstanbuls gestoppt.

Als zweite Maßnahme erfolgte die Aufforderung, alle Datenbanken zu sichern, um alle Ausgaben der vergangenen Jahre von Inspektoren kontrollieren zu lassen. Die regierungsnahe Presse blieb nicht still und startete eine Kampagne. Stellvertretend hat der zum Lautsprecher aufgestiegene regime-nahe Analyst Fatih Tezcan die Stichworte vorgegeben und witterte hinter dieser Anordnung eine Staatsgefährdung. Ausländische Geheimdienste oder Terrororganisationen könnten an sensible Daten gelangen, Staatsgeheimnisse könnten verraten werden, Tezcan. Dabei hat er vermutlich bloß die Bedrohung für das AKP-Patronagesystem erkannt, an dem er ordentlich mitverdient. Denn die Furcht davor, die Korruption und Bestechung der vergangenen Jahre könnten ans Tageslicht kommen, führte auch die AKP ans nächste Verwaltungsgericht, das die Anordnung der Datensicherung im Eilverfahren vorläufig stoppte.

Eine Neuwahl birgt mehr Risiken als  Erdoğan lieb sein dürften.

Zugleich wird seit der Kommunalwahl kontinuierlich eine Rückeroberung İstanbuls erwägt, gleichwohl die Risiken für einen solchen Weg deutlicher werden. Es haben nämlich weder etliche Neuzählungen ungültiger Stimmen noch die Forderung nach einer Neuwahl in manchen Bezirken wie Maltepe oder Büyükçekmece fruchten können.

All diese Beschwerden scheiterten an dem Hohen Wahlausschuss YSK und wenn einzelne Beschwerden angenommen wurden, führte dies nur zu einer minimalen Korrektur des vorläufigen Endergebnisses. Somit blieb als letzte Chance nur noch eine außerordentliche Beschwerde, um die Oberbürgermeisterwahl anzufechten und Neuwahlen zu begehren, wofür zunächst dem Sieger Ekrem İmamoğlu die Ernennungsurkunde ausgestellt werden musste. Bis heute ist eine Entscheidung aber offen, ob eine Neuwahl anstehen wird.

Risiko Neuwahl
Dabei birgt eine Neuwahl mehr Risiken als der Cumhur İttifakı (Volksallianz) und Erdoğan lieb sein dürften. Da sprechen zunächst erste Umfragen dagegen, die eine deutliche Missstimmung unter AKP-Wählern andeuten und von einem Wechselwählerpotential von bis zu zehn Prozent die Rede ist. Somit könnte das AKP-MHP-Bündnis bei einer Neuwahl deutlich schlechter abschneiden und abermals eine Wahlschlappe kassieren.

Die türkische Währung hat in den letzten zwölf Monaten zum US-Dollar bereits über 40 Prozent an Wert verloren

Gegen eine erneute Wahl spricht aber auch die Befürchtung, dass die politische Verunsicherung auf die Märkte rapider sich auswirkt und ausländische Investoren noch mehr abgeschreckt werden. Denn dem Ausland zu erklären, wieso nun Neuwahlen stattfinden sollen, wo doch İmamoğlu bereits zum Oberbürgermeister ernannt wurde, dürfte viel schwieriger ausfallen als der eigenen Bevölkerung verständlich zu machen, wieso dieser Weg zum Machterhalt notwendig ist. Schließlich hat die türkische Währung in den letzten zwölf Monaten zum US-Dollar bereits über 40 Prozent an Wert verloren; allein im April 2019 fünf Prozent. Damit fiel die türkische Lira auf einen Sechsmonatstief.

Eine gespaltene AKP
Dem bisherigen schlechten Krisenmanagment der AKP ist geschuldet, dass innerhalb der AKP Unstimmigkeiten vorherrschen und längst keine Geschlossenheit nach außen demonstriert wird.

Es ist vor den Kulissen nicht einmal eine stimmige Linie des Parteiführers Erdoğan erkenntlich, der seiner angeschlagenen Partei in İstanbul keinerlei Richtung vorweist. Erdoğan ist an seinem eigenen Machterhalt interessiert und zeigt sich darum offen für die Anerkennung des Wahlergebnisses.

»Türkei-Bündnis«
Er hat inzwischen zu einem großangelegten „Türkei-Bündnis“ mit der CHP aufgerufen. Einigen Parteifunktionären geht es vordergründig aber um Postensicherung und Gesichtswahrung. Sie wissen, dass die Wahlschlappe ihre Posten kosten wird. Darum lassen sie nichts unversucht, um die Neuwahl durchzusetzen.

Dies sollte auch nicht überraschen. Denn die AKP war nie eine homogene Partei. Zwar tritt nach außen Erdoğan als Parteiführer auf und ihm gelang bisher, die AKP zusammenzuhalten. Sowohl der Staat als auch seine Partei sind auf ihn zugeschnitten. Doch Erdoğan sieht sich verstärkt Flügelkämpfen und parteiinternen Oppositionellen ausgesetzt, die seine Partei bedrohlich an den Rand einer Spaltung führen könnten. Dabei treten insbesondere drei Figuren auf, die in der jüngeren Geschichte für die AKP wirkten und wichtige Posten übernahmen.

Es zeigt sich, dass sich mindestens zwei parteiinterne oppositionelle Lager gebildet haben: Eines um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Und das andere um den ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül und den ehemaligen Wirtschaftsminister Ali Babacan. Beide Lager eint die Feststellung, dass die AKP-Führung von ihrer einst zurückhaltenden Politik der Jahre zwischen 2002 und 2007, mit einigen Beschränkungen auch bis 2013 längst abgewichen sei und zunehmend dem Parteiansehen geschadet und dem Gründungsmanifest der AKP von 2001 als eine Reformpartei, die Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit verspricht, widersprochen werde.

Kommt eine parteiinterne Machtprobe?
Dabei unterschlagen beide Lager in ihren bislang eher seltenen Statements die eigenen Verstrickungen in die desolate Lage von heute und es ist ungewiss, ob es zu einer Neugründung einer Partei kommt oder zu einer parteiinternen Machtprobe. So begann unter Davutoğlu als Außenminister und später Ministerpräsident nicht nur das außenpolitische Harakiri, sondern auch die Verfolgung von Oppositionellen nach den Gezi-Protesten 2013, die vollständige Zerschlagung der Gülen-Bewegung und die Transformation der parlamentarischen Demokratie in ein autoritäres Präsidialregime.

Bahçeli treibt Erdoğan vor sich her, liefert ihm die national-populistischen Stichworte und kann dadurch seine nationalchauvinistischen Themen zur Staatspolitik erheben.

Gül hat sich als Staatspräsident von 2007-2014 hingegen einen nüchternen Ruf sichern können und trat stets als good guy auf im Gegensatz zum Raufbold Erdoğan. Doch in keiner anderen Regentschaft als unter seiner hat die Abschaffung des Rechtsstaates dermaßen Gestalt angenommen wie nach dem Verfassungsreferendum vom 12. September 2010. So hat die als Justizreform getarnte Entmachtung des Hâkimler ve Savcılar Kurulu HSK (Rat der Richter und Staatsanwälte) dazu geführt, dass Gülen-nahe Richter und Staatsanwälte von der Anhebung der Mitgliederzahl des Rates von sieben auf 22 profitierten und überhaupt im Justizapparat weitreichend das Sagen übernehmen konnten.

Politisierung der Justiz
Auch hat die Erhöhung der Zahl der Richter am Verfassungsgericht von elf auf 17 nicht zu mehr Rechtsstaatlichkeit, sondern zur weitgehenden Politisierung der Justiz geführt, denn ernannt wurden die neuen Richter anteilig vom Staatspräsidenten Gül und dem Parlament, wo die AKP die Mehrheit stellte. Alte laizistisch-kemalistische Richter und Staatsanwälte verloren ihre Mehrheiten in diesen Institutionen, wurden entlassen, versetzt oder abgestraft, ihre Stellen durch Kader der Gülen-Bewegung besetzt. Nicht zu vergessen ist die weitreichende Entmachtung des Militärs im Ergenekon-Komplott zwischen 2007 und 2013, das ein bis dahin unbekanntes Machtvakuum in den Staatsapparaten schuf und der AKP dadurch erst recht eine Etablierung in Staat und Gesellschaft ermöglichte. Das alles geschah unter Gül und mit dessen Zustimmung.

Neben diesen beiden Lagern gibt es aber auch getreue Gefolgschaft, die sich gegenübersteht und regelmäßig um die Gunst des Führers buhlt. So hat sich Süleyman Soylu, seit 2016 Innenminister deutlich als martialischer Kampfgenosse profilieren können und rottet neben dem »Pinguin«-Lager, bestehend aus Journalisten, Beratern und Financiers um den Finanzminister Berat Albayrak ein ihm loyales Lager von Straßenschlägern, Bürokraten und Einpeitschern um sich.

Ein bröckelndes Bündnis
Zweifelsohne gehört zu den Gewinnern der Kommunalwahl der Führer der nationalchauvinistischen MHP Devlet Bahçeli. Seitdem Erdoğan notgedrungen mit ihm zur Mehrheitsbildung im Parlament, aber auch zur Besetzung des von angeblichen Gülenisten gesäuberten Staatsapparates Personal braucht, ein Bündnis eingehen muss, verliert die AKP immer mehr Wähler an die MHP. Den aggressiven Ton des Wahlkampfs bestimmte sowieso Bahçeli mit seiner Behauptung einer „beka sorunu“ (Existenzfrage), weshalb er gegenwärtig als der heimliche Führer in Ankara angesehen wird.

Ein Weiter-so ist ohne weiteres nicht mehr möglich.

Bahçeli treibt Erdoğan vor sich her, liefert ihm die national-populistischen Stichworte und kann dadurch seine nationalchauvinistischen Themen zur Staatspolitik erheben. Zugleich sichert er sich dadurch in Zentralanatolien die Stimmen enttäuschter AKP-Wähler, die sich vom nationalistischen Schwenk der AKP, die sich zuvor noch islamistisch-internationalistisch gab nicht mehr überzeugen lassen und darum zum Original greifen: der MHP. Nicht ohne Stolz verkündet daher Bahçeli einen Stimmenanteil von 18,81 Prozent für seine Partei, während landesweit die Cumhur İttifakı (Volksallianz) von AKP und MHP auf umgerechnet 51% kommt und die AKP somit hinter ihr einstiges Ergebnis von 2002 mit 34% fällt.

Erdogan rüstet auf
Das hat Erdoğan inzwischen erkannt und rüstet auf zu neuem Geländegewinn. Denn längst ist im Palast angekommen, dass der Krisenaufschub wie in den vergangenen Monaten zwar kurzfristig wirkte und die Rezession verzögerte. Nun aber schrumpfen auch die Dollarreserven der Zentralbank.

Die Kernschmelze im AKP-Milieu ist daher bereits in den Metropolen ausgebrochen.

Ab Mai 2019 gilt das Iran-Embargo auch für die Türkei, die bislang von einer sechsmonatigen Ausnahmeregelung profitieren konnte. Folglich ist ein Weiter so ohne weiteres nicht mehr möglich. Die Türkei bezieht günstiger als auf dem Weltmarkt sein Erdöl zu etwa 30%, sein Erdgas zu etwa 20% vom Iran und muss sich nun zu üblichen Marktpreisen teureres Öl und Erdgas vom Weltmarkt beschaffen. Das wird die Inflationsrate merklich beeinflussen, denn die vollständige Abhängigkeit von Öl- und Gas-Importen wird die Produktionskosten des sowieso schwächelnden produzierenden Gewerbes erhöhen und die Verbraucherkosten spürbar betreffen.

Sogar in der Provinz muss die AKP Verluste an die verbündete MHP hinnehmen.

Die Auslandsverschuldung der Privatunternehmen lässt sich auch nicht mehr ohne weiteres umgehen oder aufschieben, bis zum Sommer wird der Beginn einer Welle von Pleiten und Entlassungen vorausgesagt. Die Kernschmelze im AKP-Milieu ist daher bereits in den Metropolen ausgebrochen, die Arbeitslosigkeit steigt weiterhin und sogar in der Provinz muss die AKP Verluste an die verbündete MHP hinnehmen.

Martialisch, laut und radikal
Erdoğan kann sich daher eine starke, auf Autarkie setzende MHP auf Dauer nicht leisten. Denn das Bündnis ist zunächst ein Gewinngeschäft für die MHP, die ihr Personal in strategisch wichtige Stellen setzt. Solange es der MHP gelingt, für Erdoğan den Mehrheitsbeschaffer zu spielen, um im sowieso stillgelegten Parlament keine Hürde zu werden, versorgt Erdoğan seine Verbündeten mit Posten im Justiz- und Polizeiapparat auf Kosten eines zunehmend autoritärer werdenden Regimes. Dort allerdings benehmen sich die nationalchauvinistischen Schergen so, wie sich Faschisten im Gewand des Staates, ausgestattet mit allen Möglichkeiten und Mitteln benehmen: Martialisch, laut und radikal. Das kann Erdoğan, der von ausländischem Kapital und Investoren abhängig ist, mittelfristig nicht gebrauchen, schon gar nicht, wenn er das sowieso arg beschädigte Vertrauen und Ansehen irreparabel mit eigenem Wirken bereits beschädigt hat.

Too big to fail
Erdoğan wäre aber nicht Erdoğan, wenn er nicht wüsste, wie sehr aber auch das Ausland wie in den Jahren zuvor ihn braucht. Die Türkei ist nicht nur für ihn too big to fail. Also sieht er sich um und streckt der deutlich milderen CHP den Arm aus, um der eigenen Verantwortung sich zu entziehen. Nur so lässt sich sein Aufruf an die CHP, eine Türkei-Allianz zu bilden erklären. Ob die CHP ihm die Hand reicht, und einem fallenden Erdoğan-Regime zur Hilfe eilt, wird sich zeigen. Besonders erpicht scheint man aber nicht zu sein. Der Fall İstanbuls hat der CHP gezeigt, dass sie getrost auf ein »Türkei-Bündnis« verzichten kann.