Gedenken an das Tiananmen-Massaker:

»China setzt Hongkong unter Druck«

Der linksliberale Politiker Mak Hoi-wah aus Hong Kong über das Tiananmen-Massaker und die Erinnerungspolitik Chinas.

Am 4. Juni jährt sich das Tiananmen-Massaker zum 30. Mal. Gegen viele Widerstände versuchen Sie seit 2012, in Hongkong mit einem Museum daran zu erinnern. Weshalb ist das Gedenken so wichtig?
Wir erinnern mit unserem Museum daran, dass 1989 in Peking Menschen durch Panzer und wahllos in die Menge schießende Soldaten getötet wurden. Dass die Regierung das Militär gegen friedliche Demonstrierende eingesetzt hat, ist ein trauriger Teil der chinesischen Geschichte. Aber die chinesische Regierung hat noch immer nicht erklärt und anerkannt, was geschehen ist, hat immer noch keine Kompensationsleistungen erbracht, und es ist unmöglich, darüber in China offen zu diskutieren.
In Hongkong hatten wir 1989 auf eine friedliche Lösung gehofft, aber das Massaker rief große Sorgen über die Entwicklung in China hervor. Seitdem haben wir jährlich am 4. Juni im Hongkonger Victoria Park abendliche Gedenkveranstaltungen mit Kerzenlicht organisiert, um an die Unterdrückung von Dissidenten zu erinnern.
Mit unserem Museum wollen wir erreichen, dass die Menschen das Massaker nicht vergessen und dass sie die chinesische Regierung zur Verantwortung ziehen.

»Gegen die Ausweitung und Legalisierung von Auslieferungen nach China haben Ende April mehr als 100 000 Menschen in Hongkong demonstriert.«

In der Sonderverwaltungszone Hongkong kann über den 4. Juni 1989 gesprochen werden, nicht aber in der Volksrepublik China auf dem Festland?
Durch die Regel »Ein Land – zwei Systeme« und die durch das Hongkonger Grundgesetz gewährte Redefreiheit können wir hier sprechen, demonstrieren und gedenken. In China dagegen ist nichts erlaubt, was der Regierung nicht gefällt. Zum Beispiel dürfen die »Tiananmen-Mütter«, eine Vereinigung von Angehörigen getöteter Demonstranten, nicht öffentlich um ihre Familienmitglieder trauern, und sie werden vor dem 4. Juni gezwungen, Peking zu verlassen. Wer auch nur über den 4. Juni ­reden möchte, wird aller möglichen Dinge beschuldigt und weggesperrt oder anderweitig am Reden gehindert.

Haben Sie die Hoffnung, dass nach 30 Jahren auch in China die Realität des Massakers anerkannt wird?
Ich hoffe, dass die Menschen endlich die Wahrheit erfahren, nämlich dass die Menschen ihres auch in der chi­nesischen Verfassung enthaltenen Rechts auf Redefreiheit durch Panzer und Soldaten beraubt wurden. Die ­Regierung muss zur Verantwortung gezogen werden.

Gibt es Versuche, den Museumsbetrieb zu stören oder zu verhindern?
In der Vergangenheit wurde immer wieder versucht, uns wegen angeblicher Verstöße gegen Regularien zu behelligen, es gab Belästigungen und Anklagen. Beispielsweise hat man vor der Eröffnung die Baustelle verwüstet und Salzwasser in die Steckdosen und Sicherungskästen geschüttet. Schon vor der Eröffnung gab es vor dem Museum Proteste, wir wurden etwa beschuldigt, die Nachbarn zu stören. Die Feuerwehr wurde zu uns geschickt, weil angeblich Gas austrat, obwohl es gar keine Gasleitungen an dem Ort gibt, und es wurde Müll auf unserer Etage ausgeleert. Aber trotz zahlreicher politisch motivierter Belästigungen und Angriffe ist es uns gelungen, das Museum zu eröffnen.

Besuchen Festland-Chinesen Ihr Museum, und wie reagieren sie auf die Ausstellung?
Viele Festland-Chinesen erfahren zum ersten Mal die Details des Massakers, auch wenn sie darüber schon grundsätzlich Bescheid wussten. Sie erfahren auch mehr über die Studentenbewegung, die mit dem Massaker niedergeschlagen wurde. Sie sehen den Helm eines Studentenführers, der von einer Kugel durchschlagen wurde. Sie sind schockiert über all die Dinge, die sie zum ersten Mal ohne Beeinträchtigung durch die Regierung sehen können.

Vor etwa fünf Jahren kam es in Hongkong zu großen Protesten gegen die chinesische Bevormundung, vor kurzem wurden Urteile gegen einige der Organisatoren der damaligen Proteste gefällt. Wogegen richteten sich diese?
Die Proteste richteten sich gegen chinesische Beschlüsse, die Hongkong freie Wahlen verwehren, da nur von China genehmigte Kandidaten in die Hongkonger Regierung gewählt werden können. Die »Regenschirm-Bewegung«, benannt nach den Regenschirmen, mit denen Demonstrierende sich gegen Tränengasangriffe der Polizei wehrten, besetzte und blockierte 79 Tage lang verschiedene Orte in Hongkong. Die Hongkonger Regierung geht nun gegen die Organisatoren und Anführer der verschiedenen Proteste vor, kürzlich wurden neun Menschen wegen Aufwiegelung der Bevölkerung und ähnlicher Anklagepunkte zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Obwohl es sich um friedlichen Protest und ­zivilen Ungehorsam gehandelt hat, müssen sie ins Gefängnis. Ich erwarte aber, dass gegen die Urteile Berufung eingelegt wird.

Die unabhängig sind Gerichte und Regierung in Hongkong?
Bis zu einem gewissen Grad haben wir ein unabhängiges Gerichtssystem, und ich hoffe, dass die Urteile angesichts des friedlichen und uneigennützigen Charakters der Proteste revidiert werden.

Es gab jüngst erneut Proteste in Hongkong. Was war der Auslöser?
Ein Mordfall in Taiwan wird von der Hongkonger Regierung genutzt, um das Auslieferungsgesetz zu ändern. Menschen sollen leichter nach Taiwan, China oder in andere Länder ausgeliefert werden können, wenn ihnen dort ein Prozess gemacht werden soll. In China gibt es aber kein gerechtes Rechtssystem, die chinesische Regierung nutzt das Gesetz, um Andersdenkende und Protestierende mit allen möglichen Anklagen zu behindern und zu verfolgen. Menschen werden verfolgt, nur weil sie Recht und Gerechtigkeit einfordern. Die chinesische Regierung nutzt verschiedene Vorwände, um Menschen in Hongkong zu inhaftieren und ihnen in China politische Prozesse zu machen. In der Vergangenheit wurden zum Beispiel mehrere Buchhändler nach China gebracht und verfolgt, weil sie in Hongkong kritische Bücher über China verbreitet haben.Gegen die Ausweitung und Legalisierung von Auslieferungen haben Ende April mehr als 100 000 Menschen in Hongkong demonstriert. China versucht mit allen möglichen Mitteln, eine Debatte darüber zu verhindern, und die Änderung des Auslieferungsgesetzes durchzusetzen. Die Art und Weise, in der China die Hongkonger Regierung unter Druck setzt, um gegen die Interessen der Menschen Hongkongs zu handeln, ist sehr beunruhigend.

Die deutsche Wochenzeitung »Die Zeit« berichtete kürzlich über wachsenden Fatalismus in Hongkong und das verbreitete Gefühl, dass »Hongkong vorbei« sei. Teilen Sie diese Beobachtung?
Als die britische Kolonie Hongkong 1997 an China zurückgegeben wurde, sollten die Hongkonger Grundrechte und Freiheiten nach dem Motto »Ein Land – zwei Systeme« gewährt bleiben. Aber die chinesische Regierung nutzt alle denkbaren Mittel und Anlässe, um Hongkong unter Druck zu setzen und die Rechte und Meinungsfreiheit der Menschen in Hongkong zu beschneiden. Viele davon fühlen sich wehrlos und verlassen die Stadt für immer. Aber trotz des Abflusses von talentierten Menschen gibt es immer noch viele, die für die Interessen, die Rechte und die Freiheit der Stadt kämpfen.

Sehen Sie in Hongkong das Potential für neue Proteste in der Größenordnung der Regenschirm-Bewegung von 2014? Befürchten Sie, dass es in Hongkong zu etwas Ähnlichem wie dem Tiananmen-Massaker kommen könnte?
Wir wissen nicht, ob es so schlimm wird, aber es wäre wichtig, dass es inter­nationales Interesse an der Situation in Hongkong gibt und dass die chinesische Regierung in die Verantwortung genommen wird. Wir versuchen, mit legalen und zivilen Mitteln unseren Willen und den Widerspruch gegen die chinesische Unterdrückung zu demonstrieren. Wir haben China nicht viel entgegenzusetzen, aber wir führen Debatten, betreiben Aufklärung. Wir hoffen, dass die Menschen in Hongkong widerständig bleiben und dass ein faires Abkommen mit China ausgehandelt werden kann.

Was erhoffen Sie sich an internationaler Unterstützung?
Die Menschen in aller Welt sollten sich für Hongkong interessieren, es nicht als eine weitere chinesische Stadt sehen und als interne chinesische Angelegenheit vergessen. Die Situation ist sehr instabil, wir sind verwundbar. Es könnte sogar sein, dass sich nicht einmal das Vereinigte Königreich an unsere Seite stellt und zulässt, dass Hongkong das Übereinkommen von 1997 für obsolet erklärt. Deutschland, die EU, die USA und andere Länder sollten sich fest auf die Seite der friedlichen Protestierenden in Hongkong stellen, die ihre Grund- und Menschenrechte ­einfordern.
Wir hoffen, dass China nicht nur Handel mit der Welt treibt, sondern auch im Inneren internationale Standards einhält. Gerade in der Zeit um den 4. Juni wird China alles versuchen, um freie Rede und Berichterstattung zu unterdrücken.

Mak Hoi-wah ist Sozialarbeiter und Mitglied der links­liberalen Demokratischen Partei in Hongkong. Er war ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements in China, die sich unter anderem für die Eröffnung des »Museums des 4. Juni« einsetzte. Es erinnert an das Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 in Peking, in dessen Folge Hunderte bis Tausende Menschen getötet wurden.