Buch - Lisa Kränzler: Coming of Karlo

Die Angst der Coolen

Süddeutsche Provinz, neunziger Jahre: Eastpaks, penetrantes Vanille-Parfüm und Zigaretten. Noch nicht ganz volljährige Gymnasiasten, die sich auf postpubertärer Balz in einem ranzigen Kellerclub, auf frivol-eskalierenden Poolpartys, in elterlichen Schlafgemächern und der Rau­cher­ecke beim Schulgelände herumtreiben – dies sind die Szenerien in Lisa Kränzlers neuem Roman ­»Coming of Karlo«. Mit 622 Seiten ist das Buch ihr bisher umfangreichstes und zugleich ihr erster Coming-of-Age-Roman mit einem männlichen Protagonisten.

Karlo West ist 17 Jahre alt, gehört zu den »Coolen«, ist fußballbesessen, gutaussehend und bei den Mädchen begehrt; es gibt aber zwei Dinge, die ihn heimlich belasten: eine komplizierte Sportverletzung und der Schock, als er in einem Fotoalbum zufällig ein Foto seines leiblichen Vaters entdeckt, von dessen Existenz er bislang nichts wusste. Während Karlo seine erste Liebe erlebt, verliert seine Mutter sich immer wieder im Alkoholrausch, um der Tristesse einer aufgesetzten Familienidylle zu entkommen.
Die 1983 in Ravensburg geborene Autorin, die auch Malerin ist, lässt ihren skurrilen, phantastischen und assoziationsreichen Gedanken freien Lauf: Licht bekleckst den puddingbraunen Boden wie Vanillesauce, Brüste sind von Sandstürmen abgeschliffene »Steatit(t)en« und Wolken »H2Ohne Überblick«.

Kränzler behält den Überblick und wechselt souverän von der Makro- in die Mikroperspektive und wieder zurück. Ihre Sprache ist plastisch und poetisch, auch in der Typographie werden alle Register gezogen, um die zerbrechliche Teenagerwelt fassbar zu machen. Wut und Verzweiflung brechen sich in einem unkontrollierten Wortrausch Bahn.
»Coming of Karlo« ist ein Kunstwerk, das mit seiner Opulenz und Dringlichkeit besticht und den Leser – sofern dieser gewillt ist, sich auf die Geschichte einzulassen – in seinen Bann zu ziehen vermag.

Lisa Kränzler: Coming of Karlo. Verbrecher-Verlag, Berlin 2019, 622 Seiten, 29 Euro.