Inguscheten protestieren gegen Gebietsabtretungen an Tschetschenien

Gefährlicher Nachbar

Proteste gegen ein Grenzabkommen mit Tschetschenien zwangen den Präsidenten der autonomen russischen Teilrepublik Inguschetien zum Rücktritt. Viele Bewohner fürchten, die brutalen Methoden des tschetschenischen Herrschers Ramsan Kadyrow könnten auch in ihrer Republik Einzug halten.

Änderungen von Grenzverläufen sind meist eine heikle Angelegenheit. Oftmals erregen sie die Gemüter weitaus mehr als Fragen der unmittelbaren Existenzsicherung. Die Grenzen der kleinen Republiken im russischen Nordkaukasus änderten sich im Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution ­immer wieder. Nach wie vor bergen Grenzfragen dort viel Konfliktpotential.

Ein im September 2018 unterzeichnetes Abkommen sollte zumindest die andauernden Grenzstreitigkeiten zwischen Tschetschenien und Inguschetien durch einen Austausch angeblich gleichwertiger Gebiete beenden. Doch Experten errechneten, dass Tschetschenien ein erheblich größeres Gebiet erhält, als es abtritt. Inguschetien, die kleinste aller Republiken der russischen Föderation mit etwa einer halben Million Einwohnern, erlebte deshalb die größte Protestwelle in seiner jüngeren Geschichte. Ende Juni musste Junus-bek Jewkurow, der Präsident Inguschetiens, zurücktreten.

Generalmajor Jewkurow hat sich die Sterne auf seiner Uniform als Angehöriger des russischen Militärgeheimdienstes GRU bei Einsätzen im Kosovo und in Tschetschenien verdient. Er ist wie bereits seine beiden Vorgänger ein disziplinierter Armeekader und trat im Herbst 2008 als Nachfolger des hohen Geheimdienstoffiziers Murat Sja­sikow sein Amt an. Damals bot die Republik kein schönes Bild. War­lords hatten sie fest im Griff, es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände, Schießereien und Anschläge waren alltäglich. Anders als sein tschetschenischer Amtskollege Ramsan Kadyrow oder sein unmittelbarer Vorgänger verließ Jewkurow nicht allein auf Gewalt. Er zeigte auch Geschick bei Verhandlungen, beispielsweise bei einem Treffen mit einem der wichtigsten kaukasischen Jihadistenanführer, Ali Tasijew.

Die von Islamisten verübteen Terroranschläge wurden deutlich seltener. Jewkurow hielt an seiner Politik fest, nach­dem er 2009 bei einem auf ihn verübten Anschlag nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Sogar organisierte Opposition konnte sich auf eine Weise entfalten, wie es nicht nur für den Nordkaukasus, sondern für ganz Russland untypisch ist. Selbst Salafisten, die in den Nachbarrepubliken verfolgt werden, werden in Inguschetien in der Regel nicht belangt. Die Beziehungen zu islamischen Institutionen und zu einigen einflussreichen Clans verschlechterten sich jedoch immer weiter. Zudem dominiert in Inguschetien das in Teilen archaisch anmutende, Adat genannte Gewohnheitsrecht. Diesen Verhältnissen Rechnung zu tragen und trotzdem im Auftrag der Moskauer Führung für Ordnung zu sorgen, war von vorneherein ein Balanceakt; nun ist Jewkurow an ihm gescheitert.

Anfang September 2018 wurde seine Amtszeit ein zweites Mal verlängert, kurz danach sorgte das Grenzabkommen für Empörung. Tausende Menschen besetzten über zwei Wochen das Zentrum der Hauptstadt Magas. Einige Abgeordnete des Lokalparlaments, religiöse Anführer und Oppositionelle schlossen sich den Protesten an, Clan­älteste machten ihre Autorität geltend, um ihre Verwandten in einflussreichen Ämtern auf Linie zu bringen und ein Referendum einzufordern. Das inguschetische Verfassungsgericht lehnte eine Anerkennung der neuen Grenzen ab, das russische befand, die festgelegte Grenz­ziehung sei verfassungskonform.

Ende März flammten die Proteste erneut auf, dieses Mal gegen Pläne der Regierung, ein Referendum über Grenz­fragen per Gesetz zu unterbinden. Es am zu Zusammenstößen mit der Nationalgarde. Längst ging es nicht mehr allein um die Frage des Grenzverlaufs, vielmehr forderten die Protestierenden Jewkurows Absetzung, hauptsächlich weil er Entscheidungen treffe, ohne auf die Bevölkerung zu hören. Tatsächlich dürften sich viele von der Befürchtung leiten lassen, dass das ohne öffentliche Debatte initiierte Grenzabkommen ein Vorbote für eine Einführung tschetschenischer Praktiken sein könnte. Unter Kadyrows Gewaltherrschaft ist so viel Meinungspluralismus, wie er in Inguschetien üblich ist, undenkbar. Doch dieses Mal reagierte Inguschetiens Machtapparat mit Härte. Wegen Aufrufen zu Massenunruhen wurden knapp 30 Personen verhaftet und der Ältestenrat, die Vertretung der Clanführer, wurde verboten.

Damit verstärkte die Regierung allerdings die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung. Die Grenzfrage ist trotz des Abkommens nicht endgültig gelöst, doch damit muss sich künftig der neue Statthalter der russischen Regierung in Inguschetien beschäftigen: Mahmoud-Ali Kalimatow. Er ist ein Spross eines einflussreichen Clans, hat jedoch den Großteil seines Lebens als Kader im russischen Justiz- und Verwaltungsapparat außerhalb der Republik verbracht.

Mittlerweile bahnt sich auch zwischen Tschetschenien und Dagestan ein Grenzkonflikt an. Wie auch im Fall ­Inguschetiens, wo Kadyrow jahrelang als treibende Kraft für die Ausweitung seines Territoriums auftrat, macht auch hier Tschetschenien Druck. Bis En­de des Jahres soll eine Neuregelung gefunden werden.