Türkische Oppositionelle vor Gericht

»Keine Beweise, nur Schuldzuweisungen«

In der Türkei hat der Prozess gegen Aktivisten der Gezi-Proteste begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sich mit ausländischen Mächten verschworen zu haben.

Polizisten in dunkelblauen Uniformen und schweren Stiefeln patrouillieren regelmäßig im Schatten der Bäume. Der Istanbuler Gezi-Park am Taksim-Platz ist derzeit die am besten bewachte Grünanlage von Istanbul. Sechs Jahre ist es her, dass Mitglieder der Taksim-Plattform versuchten, das Fällen der Parkbäume mit einem Zeltlager zu verhindern. Der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte sich in den Kopf gesetzt, dass dort ein Einkaufszentrum in ­Gestalt einer osmanischen Kaserne gebaut werden solle.

Die Verfolgung Oppositioneller ist weniger ein Anliegen der Justiz als eines der Regierung.

Sondereinheiten der Polizei stürmten den Park Ende Mai 2013 im Morgengrauen. Fotos zeigten schlaftrunkene Aktivisten, die hustend durch Tränengaswolke aus ihren Zelten und durch Tränengaswolken krochen. Diese Bilder verbreiteten sich in Windeseile in den sozialen Medien. Die Gezi-Proteste begannen mit einer kleinen Demonstration auf dem Taksim-Platz und dem angrenzenden İstiklal-Boulevard. Im Juni weiteten sie sich auf mehrere Stadtteile aus und forderten durch landesweite Solidaritätsaktionen die islamisch-konservative Regierung heraus.

Adnan Onur Acar trinkt einen Tee und blickt versonnen aus dem Park auf den Taksim-Platz. Er ist Mitglied des Fotografenkollektivs Nar, das 2013 die Proteste begleitete und die Polizei­einsätze auch selbst zu spüren bekam. Eine Tränengasmaske und ein Metallhelm waren damals Acars Grundausstattung, da die Polizei große Mengen Reizgas gegen die Demonstranten einsetzte und die Gaskartuschen aus Pressluftgewehren in die Menge schoss, oft in Kopfhöhe. Fünf Menschen starben nach Angaben der türkischen Ärztekammer durch Polizeigewalt, über 8 000 wurden verletzt.

Acar hatte damals gerade sein erstes juristisches Staatsexamen bestanden. Derzeit ist er einer der etwa 100 Anwälte, die die 16 Angeklagten im Gezi-Prozess verteidigen. Über 650 Seiten Anklageschrift hat er gelesen. Die Ereignisse, bei denen er 2013 dabei war, findet er ­darin nicht wieder. »Die Beschuldigten sollen internationale Kontakte geknüpft und so die Gezi-Proteste organisiert haben. Sie werden in der Anklageschrift als Teil einer internationalen Verschwörung präsentiert. Die Angeklagten sollen mit Hilfe aus dem Ausland versucht haben, die Türkei in ein Chaos zu stürzen und zu destabilisieren.«

Unter den 16 Angeklagten befinden sich prominente Persönlichkeiten wie der mittlerweile im Exil lebende Schauspieler Memet Ali Alabora und der nach Deutschland geflüchtete Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet. Auch der 61jährige Osman Kavala gehört dazu, ein Geschäftsmann, der mit seiner Firma Anadolu Kültür Künstler und Initiativen der Zivilgesellschaft unterstützt. »In der Anklageschrift werden Beziehungen spekulativ interpretiert. Ein Zusammentreffen von Osman Kavala und George Soros vor den Protesten wird zu einer konspirativen Sitzung zur Planung der Gezi-Proteste erklärt. ­Dabei gibt es keine Angaben darüber, was dort besprochen wurde.« Kavala unterstrich in seiner einstündigen Verteidigungsrede zum Prozessauftakt am 24. Juni, dass kein einziger Beleg für Zahlungen seiner Firma an die Organisatoren der Gezi-Proteste vorliege. Während seiner 20 Monate langen Untersuchungshaft habe die Staats­anwaltschaft nichts dergleichen nachweisen können.

Acar betont den politischen Charakter des Prozesses. »Es gibt keine Beweise, sondern nur Schuldzuweisungen.« Der Anwalt befürchtet dennoch ein langwieriges Verfahren. Erst müssen alle Angeklagten gehört werden, einige ­befinden sich im Ausland. Danach muss die Verteidigung die ­Anklage entkräften. Die Anwälte haben die lange Anklageschrift untereinander aufgeteilt. Jeder ist angehalten, etwa sechs bis sieben Seiten zu bearbeiten und zu widerlegen.

Acar erwähnt ein Foto, das er von George Soros und Recep Tayyip Erdoğan im Internet ­gefunden hat. In der Zeit vor 2003, als die damals vom Militär dominierte ­Justiz Erdoğan wegen Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft angeklagt hatte, hatte dieser den Geschäftsmann um Unterstützung ­ersucht, dessen »Open Society«-Stiftungen international  die Zivilgesellschaften stärken sollen. »Ein solcher Kontakt soll Osman Kavala nun ins Gefängnis bringen?« fragt Anwalt Acar.

Die Richter haben den Pädagogen Yığıt Aksakoğlu nach ein paar Monaten ­Untersuchungshaft am zweiten Verhandlungstag freigelassen. Kavala sitzt weiterhin ein, der Prozess wurde auf den 18. Juli vertagt. Acar meint: »Rechtlich ist das nicht nachvollziehbar. Es gibt keine erdrückende Beweislast gegen Kavala, einer Fluchtgefahr wird gemeinhin durch ein Ausreiseverbot vorgebeugt.« Der Geschäftsmann war am 18. Oktober 2017 noch im Flugzeug festgenommen worden, als er mit Vertretern des Goethe-Instituts aus der Stadt Gaziantep zurückkehrte. Anadolu Kültür sollte als Partner eines Kulturprogramms mit Geflüchteten aus Syrien und dem Irak fungieren.

Auch das Goethe-Institut Istanbul wird in der Anklageschrift erwähnt, weil die ehemalige Leiterin während der Gezi-Proteste mit Kavala telefoniert hatte. Nach dessen Inhaftierung hatte der Geschäftsmann am 29. Januar 2018 das türkische Verfassungsgericht angerufen und dagegen protestiert, dass er keinem Haftrichter vorgeführt worden war. Die Mängel im Verfahren sehen sogar leitende Richter im Justizwesen, ohne etwas dagegen tun zu können. Am 22. Mai dieses Jahres wurde Kavalas Eingabe abgelehnt.

Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan hatte gegen diese Entscheidung gestimmt. Er stellte fest, dass eine individuelle Unterstützung Kavalas für die Gezi-Proteste nicht nachgewiesen worden sei. Jeder könne sich an friedlichen Protesten beteiligen, das sei keine Straftat, heißt es im Protokoll der Beratung des Verfassungsgerichts. »Untersuchungshaft ist längst ein Mittel zur Bestrafung von Oppositionellen geworden«, sagt Acar. Offensichtlich ist diese Verfolgung Oppositioneller in der Türkei weniger ein Anliegen der Justizbeamten, als eines der Regierung.


Das türkische Verfassungsgericht hat in der vorigen Woche die Untersuchungshaft von Deniz Yücel für rechtswidrig erklärt. Dessen Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit sowie das Recht auf Meinungsfreiheit seien verletzt, zudem seien viele Aussagen Yücels falsch übersetzt worden. Der Beschluss fiel einstimmig.