Online-Pranger mit fatalen Folgen

Der Marathon-Detektiv

Ein US-Blogger entlarvt tricksende Marathonläufer und stellt sie öffentlich bloß. Nach wochenlangen Anschuldigungen hat nun ein Hobbyläufer Suizid begangen.

Im Sport geschummelt und betrogen, das ist hinlänglich bekannt. Aber nicht nur im Profisport wird getrickst, auch Hobbysportler helfen oftmals nach – was wiederum Hobbydetektive auf den Plan ruft, die angebliche oder tatsächliche Schummler öffentlich zu entlarven versuchen.

Derek Murphy veröffentlichte vor Frank Mezas Tod ein halbes Dutzend Artikel über den Marathonläufer.

Marathon ist eine Sportart, in der schon immer getrickst wurde. Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts versuchten Teilnehmer alles, um so schnell wie möglich ins Ziel zu kommen, und legten Teile der Strecke mit dem Auto, dem Fahrrad oder der U-Bahn zurück. Auch und gerade dann, wenn es gar nicht um Preis­gelder geht, im Freizeitsport, ist die persönliche Bestzeit bei einem an­gesehenen Rennen der Stolz des Läufers, das Beachtung und Ansehen der Läufergemeinde einbringt und den ernsthaften Läufer vom Gelegen­heitsläufer unterscheidet.
Die in den vergangenen fünf Jahrzehnten rasant gestiegene Teilnehmerzahlen bei Marathonwettbe­werben – beim ersten Berlin-Marathon 1974 traten 286 Läufer an, 2018 waren es erstmals über 40 000 – stellen enorme Anforderungen an die Ausrichter, die die erzielten Zeiten und die Einhaltung der Regeln zu überwachen haben. Was mit Checkpoints und den Nummernlätzchen begann, wird heutzutage mit Zählmatten, Foto- und Videoaufnahmen erledigt. Zudem gehört es zumindest zur Etikette, GPS-Tracker zu tragen, die Laufstrecke und Zeit aufzeichnen.

Immer wieder kommt es dabei vor, dass der eine oder andere Sportler vom Veranstalter disqualifiziert werden muss, weil es zu Unstimmigkeiten wie ausgelassenen Checkpoints oder Ähnlichem gekommen ist. Im Normalfall läuft das ganz privat ab, der Ausrichter konfrontiert den Läufer oder die Läuferin, bekommt eine Stellungnahme, und wenn die­se die Unregelmäßigkeiten nicht hinreichend erklärt, wird der- oder die­jenige eben für dieses Rennen als disqualifiziert gewertet – womit der Fall eigentlich erledigt ist. Manchmal entscheidet der Veranstalter aber auch, dass der schummelnde Läufer an dem Rennen in Zukunft nicht mehr teilnehmen darf oder den Marathon im Folgejahr mit einem neu­tralen Zeugen an seiner Seite bestreiten muss. Die Disqualifikationszahlen sind bekannt, bei den großen Massenrennen wie in Berlin oder Boston sind es jedes Jahr etwas mehr als ein Prozent der Teilnehmenden.

So war es auch bei dem 70jährigen US-Amerikaner Frank Meza. Der Marathonläufer, ein ehemaliger Arzt und Leichtathletik-Assistenztrainer einer High School, wurde am 1. Juli nachträglich vom Los-Angeles-­Marathon 2019 disqualifiziert. Er wurde dazu aufgefordert, 2020 mit einem Beobachter zu laufen, und gab sich zunächst kämpferisch. Fünf Tage später wurde er tot im Los Angeles River gefunden, nachdem die Polizei wegen eines »Springers« von der Riverside-Figueroa-Brücke alarmiert worden war.

Es war seit 2014 bereits das dritte Mal, dass Meza bei einem Marathon disqualifiziert worden war. Aber diesmal wurde die Disqualifikation erst drei Monate nach dem Ereignis ausgesprochen – und nachdem in einem Blog vier Wochen lang verschiedenste Anschuldigungen gegen Meza veröffentlicht worden waren. Der Finanzanalyst Derek Murphy schrieb auf seinem Blog »Marathon­investigation.com« eine ganze Serie von Artikeln, in denen er Meza vorwarf zu schummeln. Dazu schrieb er Meza an, zählte Ungereimtheiten auf, verlangte eine Stellungnahme und übte öffentlich Druck aus.

Wenn Murphy einen Läufer verdächtigt, erwartet er, dass derjenige die Schummelei zugibt. Wenn nicht, veröffentlicht er die Story groß – inklusive Namen – auf seinem Blog.

Das Blog ist in der US-amerikanischen Läuferszene bekannt. Murphy wertet dort seit 2015 in seiner Freizeit die Ergebnisse von Marathons, Triathlons und Ultra-Runnings aus, inklusive Zwischenzeiten, Fotos, Videos sowie aller Werte, die er entdecken kann. Mit Hilfe von Statistiken versucht er, Auffälligkeiten zu finden und diesen auf den Grund zu gehen. Dabei gehe es ihm um Gerechtigkeit, sagt er.

Denn um beispielsweise beim renommierten Boston-Marathon mitlaufen zu können, muss man seine Wettkampfstärke beweisen. Für jede Altersklasse gibt es vorgegebene Qualifikationszeiten, die bei vorgeschal­teten, weltweit stattfindenden Marathons erreicht werden müssen, um sich für einen Startplatz bewerben zu können. Die Veranstalter lassen dann die etwa 30 000 schnellsten Läufer zu; in diesem Jahr zum Beispiel alle, deren Qualifikationszeiten vier Minuten und 52 Sekunden schneller waren, als für die bloße Anmeldung gefordert.

Murphy versucht, Läufer zu finden und zu überführen, deren Rennzeiten starke Abweichungen voneinander haben. Das kann zwar auch durch eine falsche Renneinteilung oder eine Verletzung passieren, aber dann gibt es normalerweise keine besonders schnellen Abschnitte, ausgelassenen Checkpoints oder Ähnliches. Nach eigener Aussage findet Murphy dadurch Läufer, die sich bei einem Qualifikationsrennen von einem anderen vertreten ließen, Abkürzungen nahmen oder Teile der Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Fahrrad zurücklegten.

Angefangen hat Murphy seine Ermittlungen, weil er gerne mit Zahlen jongliert. Und er wollte Gutes tun. »Wann immer jemand betrügt, bringt er jemand anderen um den verdienten Platz beim Boston-Marathon«, sagte er 2017 in einem Interview mit dem Portal The Ringer. Die Reaktionen der Marathon-Gemeinde empfindet Murphy als Bestätigung. »Mein Freund wurde um seinen Platz in Boston betrogen, könntest du dir das ansehen«, zitierte er aus E-Mails. Er will fair sein und nur die Fälle herausstellen, »bei denen es einen Unterschied macht«. Sonst könne er »jeden Tag 20 Artikel« schreiben, sagte Murphy.

Auf seiner Website verlinkt er stolz Artikel in den Medien, in denen seine Arbeit besprochen wird. Murphy mag Bestätigung. Kontaktiert er einen Läufer, den er verdächtigt, erwartet er, dass derjenige die Schummelei zugibt. Wenn nicht, veröffentlicht Murphy die Story groß – inklusive Namen – auf seinem Blog.

Meza reagierte auf Murphys Anschuldigungen aber mit der Aussage, nicht betrogen zu haben. Murphy veröffentlichte daraufhin im Lauf des Monats vor Mezas Tod ein halbes Dutzend Artikel über den Läufer. Er durchsuchte das Internet nach weiteren Beweisen, bis er auf ein Bild stieß, auf dem im Hintergrund ein Radfahrer zu sehen ist. Das völlig verschwommene, vergrößerte Foto eines älteren Mannes auf einem Fahrrad, der mutmaßlich die gleichen Turnschuhe, eine Uhr mit quadratischem Display und eine leidlich ähnliche Baseballcap trägt wie Meza bei einem Rennen, wird als unumstößlicher Beweis präsentiert, dass Meza während eines Marathons Rad gefahren sei. Die nicht passende Hose wird in dem Artikel lapidar mit »hat er entsorgt« erklärt.

Tina Meza, die Witwe von Frank, sagte nach dem Tod ihres Ehemanns dem Politikportal The Daily Beast: »Wir verstanden gar nicht, wieso er so angegriffen wurde. Er war ein ruhiger, guter Mensch, den das sehr verletzt hat. Ich verstehe es immer noch nicht.« Murphy klagt mittlerweile über Zuschriften wie: »Du hast Blut an den Händen.« Seinen Blog will er eine Zeitlang ruhen lassen, die Kommentarfunktion ist abgeschaltet. »Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, weitere Artikel zu veröffentlichen. Ich muss einen Schritt zurück machen«, sagte er vergangene Woche der Online-Ausgabe des Cincinnati Enquirer.