Die Guerillakämpfer der ELN

»Wir haben jetzt 200 views auf Instagram«

Die kolumbianische Guerillagruppe ELN hat im Dschungel ihren 55. Geburtstag gefeiert. Unser Autor David Graaff und die Fotografin Tatyana Zambrano waren bei der Party dabei.
Reportage Von

Trauben schwarzer und roter Luftballons baumeln im Wind. Musik dröhnt aus meterhohen Boxen, die neben einer improvisierten Bühne stehen. Babys, Kinder und Jugendliche krabbeln und laufen herum, tanzen zur Musik oder schauen gemeinsam mit einigen Erwachsenen einem Fußballspiel auf dem Bolzplatz zu. Der Erdboden ist mit Papierschnipseln übersät, die eine Piñata hinterlassen hat, daneben liegen weggeworfene Bonbonpapiere und Styroporteller, auf denen junge Männer und Frauen mit über der Schulter hängenden Maschinenpistolen zuvor Geburtstagskuchen gereicht haben. Über der Bühne hängen drei silberne, aufblasbare Buchstaben: ELN. Sie stehen für Ejército de Liberación Nacional, Armee der nationalen Befreiung. Eine der letzten aktiven Guerillagruppen Lateinamerikas feiert Geburtstag.

»Wir verstehen Kommunikation als Schlachtfeld und nutzen dazu die technischen Mittel des Kapitalismus.«

Bestimmt greift ein schlanker, hochgewachsener Mann zum Mikrophon. Die breite Krempe seines Tropenhuts und ein Tuch verdecken sein Gesicht. Lediglich seine Augen sind zu erkennen. Er nennt sich Comandante Uriel, ist Anfang 40 und einer der führenden Köpfe der Westlichen Kriegsfront des ELN. Uriel erzählt, wie das damals war, vor 55 Jahren, im Juli 1964, als sich ein kleines Grüppchen, in Kuba bei ­Fidel Cas­tro und Ernesto »Che« Guevara geschulte Revolutionäre, auf den Weg in eine kleine Gemeinde im Nordosten Kolumbiens machte, um dort, der Fokustheorie ­folgend, ein kleines Feuer zu legen, das den landes­weiten Brand der Revolu­tion entfachen sollte. Er ­erinnert an Camilo Torres, den ­kolumbianischen ­Guerillero, Priester und Befreiungstheologen, für den der einzige Weg zur Überwindung von Elend und Armut im bewaffneten Kampf als effektiver Nächstenliebe bestand und der nur ­wenige Monate später im Kampf starb. »ELN«, ruft Uriel und aus den Kinderkehlen schallt es zurück: »55 Jahre!« Ein vermummter Kameramann filmt mit. Das Video wird später in den ­kolumbianischen Medien für Auf­regung sorgen. »Der ELN benutzt ­Kinder zu Propagandazwecken«, lautet eine der Schlagzeilen.

Der ELN ist nach der Demobilisierung der Guerilla Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Farc) 2017 immer stärker geworden. 2 500 Kämpfer, so die Zahlen des Militärgeheimdienstes, habe er mittlerweile in seinen Reihen. Hinzu kommen, so Beobachter, mindestens noch einmal so viele zivile ­Mitglieder, die landesweit in Universitäten, öffentlichen Institutionen, ­sozialen Organisationen und Basisbewegungen für den ELN tätig sind. ­Insbesondere die Westfront in der Pazifikregion im Departamento del Chocó hat ihre Kontrolle in der abgelegenen, von vielen Flüssen und wenigen Straßen durchzogenen Dschungelregion ausgeweitet. Durch sie verlaufen wichtige Drogenrouten an die Küste, auf den Verkauf und Transport erhebt der ELN ebenso wie auf den ertragreichen Goldabbau eine »Revolutionssteuer«.

Schlachtfeld Kommunikation

Der Friedensschluss der Farc mit der kolumbianischen Regierung hat im Chocó zu mehr Krieg geführt, weil die paramilitärische Gruppe Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) und der ELN um die Kontrolle der von den Farc hinterlassenen Zonen kämpfen. Darunter leidet die meist afrokolumbianische und indigene Bevölkerung. Immer wieder flüchten die Menschen aus ihren Siedlungen vor den Kämpfen. Der staatlichen Ombudsstelle und Beobachtern an Ort und Stelle zufolge werden immer mehr Jugendliche aus den Gemeinden rekrutiert.

Eine friedliche Beilegung des Konflikts ist nicht in Sicht. Die 2017 aufgenommenen Friedensverhandlungen zwischen dem ELN und der Regierung hat der rechtskonservative Präsident Iván Duque Anfang dieses Jahres ab­gebrochen, nachdem die »Urbane Front« des ELN einen Autobombenanschlag auf eine Polizeischule verübt und 22 Menschen getötet hatte.

Nichts für Langschläfer. Die Guerilla beim Frühsport.

Bild:
Tatyana Zambrano

Einen Tag nach der Feier, einige Kilometer weiter flussabwärts in einer kleinen Siedlung am Flussufer des Río San Juan. Junge Guerilleros hocken vor den für die Region typischen, aus Holz­brettern zusammengenagelten Hütten. Manche tippen auf ihren Smartphones, die sie statt eines Buchs über Che Guevara oder Camilo Torres bei ihrem Eintritt in die Organisation geschenkt bekommen haben. Vor einer der Herbergen steht eine Satellitenschüssel, da­neben liegen vier Solarpanels in der feuchten Tropenhitze, von denen aus mehrere Kabel durch ein Fenster ins Innere der Hütte führen. Die Kabel ­enden in Laptops, Kameras und Tablets. Ein Modem blinkt, Musik einer Spotify-Playlist schallt aus einer USB-Box. ­Zwischen dem Kabelsalat und mobilen Endgeräten sitzen Uriel, eine junge Frau namens Lucia und ein Graphikdesigner, der nicht mit der Presse reden darf. Sie tragen Outdoor-Kleidung, sitzen auf Campingstühlen und arbeiten. »Reichst du mir mal den USB-Stick?« heißt es hier. »Wir haben jetzt 200 views auf Instagram.« »Ruhe bitte – Uriel muss ein Statement fürs Radio einsprechen.« Wären ringsherum nicht Dschungel und Bretterbuden, könnte man meinen, dies alles spiele sich in einer urbanen Kommunikationsagentur ab.

Kleinbürgerliche Voluntaristen

Lucia zählt die Medien auf, die die Geschichte mit den Kindern aufgegriffen haben. »In Zeiten des Internets ist es einfach, für Nachrichten zu sorgen«, freut sich Uriel. »Jede Nachricht ist eine gute Nachricht.« Er erklärt: »Wir verstehen Kommunikation als ein ­weiteres Schlachtfeld und nutzen dazu die technischen Mittel, die uns der ­Kapitalismus zur Verfügung stellt.« In anderen Einheiten des ELN verstehe man oft nicht, dass es wichtig sei, Inhalte über die sozialen Medien zu verbreiten. »Sie denken, dass ein offizielles, auf Papier gedrucktes und verteiltes Kommuniqué immer noch das geeignete Medium sei, um seine Position und politische Forderungen zu kommunizieren.« Er und sein Team hingegen hätten, inspiriert von Subcomandante Marcos von den mexikanischen Zapatistas, die Figur des »Comandante Uriel« geschaffen.

Willkommen im Gebiet des ELN. Anlegestelle eines Weilers.

Bild:
Tatyana Zambrano

Damit bespielen sie soziale Medienkanäle und produzieren, eingerahmt von Popmusik und dem Konterfei Che Guevaras, graphisch aufwendigen content. Statt immer mit der alten antiimperalistischen Revolutionsrhetorik versuchen sie es mit moderner Sprache und Themen: mit Flora und Fauna des artenreichen Chocó, mit Feminismus und Antipatriarchat und Solidarität mit Studierendenprotesten. »Unsere Zielgruppe ist die Jugend aus klein­bürgerlichen, urbanen Milieus«, sagt Lucia stolz.

Ideologisch tickt der ELN anders als die von Siedlerbewegung, Kleinbauern und Sowjetmarxismus geprägten Farc, die die »Elenos«, die ELN-Mitglieder, lange als kleinbürgerliche Voluntaristen verachtet haben. Nachdem der ELN 1973 militärisch fast besiegt worden und immer mehr in autoritäre Umgangsformen abgerutscht war, kam es im Laufe der achtziger Jahre zu einem Umdenken. Man stellte autonome Organisationsprozesse »von unten« in den Mittelpunkt – und das machte den ELN auch für Intellektuelle attraktiv. Die noch weit entfernte Eroberung der Macht als revolutionäres Heilsversprechen war nun nicht mehr das vor­rangige Ziel, sondern der unmittelbare Aufbau von Gegenmacht »von unten« standen fortan im Mittelpunkt. Die Revolution begann im Alltäglichen. »Das Volk spricht, das Volk befiehlt«, war nun einer der Slogans des ELN.

Keine Sicherheitsgarantien

Unter anderem deshalb kamen die Friedensgespräche kaum voran. Seine politische und gesellschaftliche Relevanz überschätzend, wollte der ELN einen »nationalen Dialog« initiieren. Alle gesellschaftlichen Gruppen sollten über grundlegende Fragen wie das Wirtschaftsmodell und dabei insbesondere die Ausbeutung von Bodenschätzen durch multinationale Konzerne diskutieren, ein weiteres Kernthema des ELN. Weil diese Themen bei den Verhandlungen der Regierung mit den Farc nicht vorkamen, lehnte der ELN das Friedensabkommen von Havanna ab. »Das ist kein Friedensabkommen, sondern eine Demobilisierungsver­einbarung«, sagt Uriel.

Luftballons für die Geburtstagsfeier. Die Guerilla wird 55.

Bild:
Tatyana Zambrano

Gegen eine Verhandlungslösung zu argumentieren, ist leicht: Sicherheits­garantien zur politischen Beteiligung ehemaliger Guerilleros gibt es in vie­len Regionen nach wie vor nicht. Nach Behördenangaben sind fast 500 soziale Aktivisten in den vergangenen drei­einhalb Jahren ermordet worden, dazu mehr als 130 ehemalige Farc-Kämpfer. Die Umsetzung der Friedensvereinbarungen unter Präsident Duque stockt. Die Verteilung von Landbesitz an Kleinbauern kommt ebenso wenig voran wie die vereinbarten Substitutionsprogramme für den Kokaanbau.

Immer mehr ehemalige Guerilleros verlassen mangels wirtschaftlicher Perspektiven die Übergangszonen, in denen wirtschaftliche Projekte den Einstieg ins zivile Leben ebnen sollten. Die so­genannte Sonderjustiz für den Frieden (JEP), die die im jahrzehntelangen Konflikt begangenen Verbrechen aufklären soll, wird von der kolumbianischen Rechten ständig angegriffen. »Die Bourgeoisie ist nicht bereit, etwas von ihrer Macht abzugeben und auch nur die geringsten strukturellen Veränderungen zuzulassen, um die Situation der armen Bevölkerung zu verbessern. Die Klasse an der Macht zeigt uns damit, dass es keine andere Lösung als die des bewaffneten Widerstands gibt. In Kolumbien gibt es andauernd Gründe für den Krieg«, sagt Uriel.

Die Armut bleibt

Währenddessen brennt draußen die Nachmittagssonne. Eine leichte Brise mildert die Hitze kaum. Eduardo Murillo*, der Vorsitzende der Dorfgemeinde, steht unter schattenspendenden Bananenbäumen und schaut dem Kartenspiel einiger Männer zu. Veränderungen geschehen hier nur langsam. »Wenn der Staat hierher kommt, dann mit dem Militär, und das fragt nicht, was wir brauchen«, sagt er und zeigt auf das einzige gemauerte Gebäude im Ort; es ist 25 Quadratmeter groß. »Das ist die Schule, die sie uns hier hingesetzt haben. Für 40 Kinder. Vermessen haben sie für ein doppelt so großes Gebäude. Der Rest des Geldes …« Er verstummt und macht die universelle Handbewegung, die für das Wirtschaften in die eigene Tasche steht.

Revolution bei 160 MB/s. Strom und Satellitenschüssel für den Internetzugang.

Bild:
Tatyana Zambrano

Die Korruption ist eines der großen Probleme des Chocó, das andere die ­Armut. Den staatlichen Statistiken zufolge ist die Provinz die ärmste des Landes. Bei mehr als drei Vierteln der Bevölkerung sind demnach die »Grundbedürfnisse unbefriedigt«. 30 Prozent leben in Armut, es gibt eine hohe Kindersterblichkeit, die öffentliche Gesundheitsversorgung ist mangelhaft, Bildungschancen sind gering, der ­Zugang zu sauberem Trinkwasser ist schwierig, die Ernährung unzureichend. Die aufgeblähten Bäuche einiger Kleinkinder, die durchs Dorf laufen, sind ein untrügliches Zeichen von chronischer Unterernährung.

»Wir leben hier von dem, was wir anbauen oder fangen«, sagt Murillo. »Reis, Zuckerrohr, Fisch, Kochbanane. Und dem Erbarmen Gottes.« Wirtschaftlich etwas ertragreicher ist hier nur das Koka, Goldminen gibt es vor ­allem flussaufwärts, einige Menschen leben vom Schlagen der Tropenhölzer. Wer kann, zieht weg. Ob »die Organisation«, wie die Menschen den ELN hier nennen, ihnen unter die Arme greife? Murillo schüttelt den Kopf. Außer in ­einigen Fragen der öffentlichen Ordnung halte der ELN sich zurück. Es sei aber immer noch besser als unter den paramilitärischen Gruppen, die die Menschen schlecht behandelten und ihre Bedürfnisse ignorierten.

Feierpflicht für Guerilleros

Anders als die Farc, die alle möglichen Angelegenheiten des Zusammenlebens teils streng reglementierten, überlässt der ELN dies weitgehend der Eigeninitiative der Bevölkerung. In seinen Kern­regionen im Nordosten des Landes ist das Verhältnis des ELN zur sozialen ­Basis eng. In Gegenden, in denen das Militärische im Vordergrund steht, wie im Chocó, agiere die Guerilla eher autoritär, sagen Beobachter. Murillo und die Dorfgemeinde müssen daher selbst sehen, wie sie das Geld für die Reparatur der kaputten Reisdreschmaschine auftreiben. Sie hätten schon ­einen Plan. »Im Oktober sind Regionalwahlen. Wir verkaufen die Stimmen aller Gemeindemitglieder an einen Kan­didaten, dann haben wir das Geld zusammen«, so der Dorfvorsteher. Solange müssen sie die Reiskörner noch mühsam mit einem großen Mörser von der Schale trennen.

Am Abend, als sich die Hitze allmählich verzieht, steht in der Holzhütte des Kommandanten eine Funkkon­ferenz mit den Einheiten der Westfront auf dem Programm, mit der noch einmal an den 55. Jahrestag erinnert werden soll. Alle Guerilleros müssen daran teilnehmen. Wenn es um den inneren Zusammenhalt geht, sind die Inhalte und Formen noch die alten. »Wo es Unterdrückung gibt, wird es Widerstand geben«, spricht Uriel immer wieder laut ins Funkgerät. Stramm stehen die ­Guerilleros. Sie müssen Texte vorlesen, in denen an die Märtyrer und die Gründe für den bewaffneten Kampf erinnert wird. Es werden Losungen ­gerufen (»Nicht ein Schritt zurück, Revolution oder Tod«) und Hymnen gesungen. Eine handelt davon, wie sich die Armen mutig zum Endkampf zusammenfinden und der Unterdrückung der Menschheit ein Ende bereiten; dass  weder Gott noch die Tribunen das Volk erlösen werden, sondern dieses sich selbst. Es ist »Die Internationale«.

* Name von der Redaktion geändert.