Die Regierungsbildung in Israel gestaltet sich auch nach den Neuwahlen schwierig

Unorthodoxe Lösung gefragt

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Im Mittelpunkt des Wahlkampfs stand neben dem »Referendum« über Netanyahu die Frage nach der Rolle der Religion im Staat. Viele Wählerinnen und Wähler von Blau-Weiß wünschen, dass Rabbiner im Bildungssystem sowie bei geschäftlichen und zivilrechtlichen Belangen nichts mehr zu sagen haben. Für Angelegenheiten wie Eheschließungen, Bestattungen und Konversionen sind in Israel die Religionsgemeinschaften zuständig, für Jüdinnen und Juden also das Oberrabbinat. Wegen der Orthodoxen sind am Sabbat der öffentliche Nahverkehr und der Handel an vielen Orten eingeschränkt. Sie nutzten in den vergangenen Jahrzehnten ihren überproportional großen Einfluss, um ein Netzwerk von Schulen zu betreiben, in denen oft nur wenig Mathematik oder Englisch unterrichtet wird, und haben jede gesetzgeberische Bemühung blockiert, Religionsschüler zum Wehrdienst zu verpflichten.

90 Prozent der Wählerinnen und Wähler von Blau-Weiß lehnen eine Beteiligung von orthodoxen Parteien an der Regierung ab. Heikel für Netanyahu ist, dass das auch für 51 Prozent der Wählerinnen und Wähler des Likud gilt.

Um den Konflikt über das Gesetz zum Wehrdienst zu verstehen, muss man bis zu den Sozialprotesten 2011 zurückgehen, die sich zunächst gegen die hohen Lebenshaltungskosten in ­Israel richteten. Der Unmut über die Belastungen für die arbeitende israelische Bevölkerung verlagerte sich mit der Zeit. Beanstandet wurde schließlich auch die ungleiche Lastenverteilung zwischen der säkularen und der orthodoxen Bevölkerung, da deren Ange­hörige viele Sozialleistungen und Subventionen erhalten und keinen Wehrdienst leisten müssen. Yair Lapid, der sich vehement für ein Ende der Privi­legien der Orthodoxen einsetzte, sprach säkularen Israelis aus der Seele. Hauptstreitpunkt in der Auseinandersetzung war der Wehrdienst. Seit der Staatsgründung waren Orthodoxe und arabische Israelis vom Armeedienst frei­gestellt. Das Tal-Gesetz, das diese Ausnahmeregel bestätigte, wurde 2002 für fünf Jahre verabschiedet und 2007 für fünf Jahre verlängert, doch der Oberste Gerichtshof erklärte das Gesetz 2012 für rechtswidrig.

Eine vom Komitee für gerechte Lastenverteilung erarbeitete Quotenregelung für die Rekrutierung von Studenten an Religionsschulen führte 2014 zu heftigen Demonstrationen. Bei den größten Protesten versammelten sich mehr als eine halbe Million Orthodoxe. Nachdem die Regelungen durch Verwässerung und Aufschiebung praktisch außer Kraft gesetzt worden waren, schritt das Oberste Gericht 2017 ein und verpflichtete die Regierung, ein Gesetz zu erlassen, das den Wehrdienst für Orthodoxe abschließend regelt. Das damals von Lieberman geführte Verteidigungsministerium erarbeitete ein Gesetz, das dem Verteidigungsausschuss vorgelegt wurde. Die Diskussion darüber im April verursachte so viel Streit, dass die Regierungsbildung scheiterte.

Lieberman verlangt die Verabschiedung des Wehrpflichtgesetzes ohne weitere Zugeständnisse an die Orthodoxen, die ihrerseits zur Bedingung für eine Koalition machen, dass das Torastudium als Ersatz für den Wehrdienst anerkannt wird. Zu den Forderungen Liebermans, dem darin ein großer Teil der säkularen israelischen Bevölkerung zustimmt, gehörte, dass öffentlicher Nahverkehr und Handel am Sabbat weiterlaufen und die Schulen der Orthodoxen gewisse Bildungsstandards einhalten.

Eine Abgeordnete der Arbeitspartei, Merav Michaeli, kommentierte nach der Wahl, dass linke Parteien die Macht der Orthodoxen schon lange kritisiert hätten, es aber offensichtlich Wirkung zeige, wenn ein rechter Politiker dieses Problem anspricht. Die Zersplitterung in kompromiss­unwillige politische Lager spiegelt die Zersplitterung der Gesellschaft, die sich an den Ergebnissen in einzelnen Wahlbezirken ablesen lässt. Da es nicht gleichzeitig in verschiedene Richtungen gehen kann, wird die Bildung einer Regierung noch sehr schwierig werden.