Nach den Protesten des Sommers folgen in Russland die Prozesse gegen Demonstranten und Oppositionelle

Wundersame Läuterung

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Nach Darstellung der Anklage soll Ustinow antistaatliche Losungen gebrüllt und einem Polizisten die Schulter ausgerenkt haben. Videos hingegen zeigen, wie vier Angehörige der Polizeisondereinheit Omon den untätig herumstehenden jungen Mann unvermittelt packen und mit Schlagstöcken malträtieren. Richter Kriworutschko ließ weder die Aufnahmen als entlastendes Beweismittel zu, noch forderte er einen schriftlichen Nachweis darüber, dass der in dem Verfahren als Geschädigter aufgetretene Polizist tatsächlich Verletzungen davongetragen hatte.

Ustinow ist nur eine von 21 Personen, gegen die in Moskau im Zuge der Sommerproteste Strafermittlungen eingeleitet worden waren. Gegen sechs fällten Gerichte bereits Urteile, sie verhängten bis zu fünf Jahre Haft – wobei sie die Beweislage völlig ignorieren. All das rief dermaßen viel Empörung hervor, dass neben Schauspielern etliche Künstler und sogar orthodoxe Geistliche, Psychologen, Psychotherapeuten, Lehrer und Wissenschaftler mit eigenen Aufrufen an die Öffentlichkeit gingen. Darin forderten sie die ­Freilassung der Festgenommenen, die Einstellung der Strafverfahren und Untersuchungen gegen Ermittler, Richter und Polizeiangehörige.

Im Juni hatten sich überwiegend Journalisten für ihren Kollegen Iwan Golunow eingesetzt, den die Polizei unter dem Vorwurf des Drogenbesitzes festgenommen hatte. An den beiden Fällen lässt sich ein neuer Trend erkennen. Den meisten Russinnen und Russen gilt Politik grundsätzlich als schmutziges Geschäft, mit dem man nichts zu tun haben möchte. Menschen, die mit der mangelnden Kontrolle des Polizeiapparats unzufrieden sind und nicht mit einer Partei in Verbindung gebracht werden möchten, organisieren sich in ihren Berufsgruppen politisch. Dieses Engagement hat naturgemäß Grenzen. Die noch keiner Berufsgruppe zugehörigen Jüngeren bringen ihren Protest eher auf die Straße.

Die Annahmen der Staatsanwaltschaft standen schon vor Ustinows Freilassung auf wackligen Beinen. Zunächst trieben die Strafverfolger die Ermittlungen wegen angeblicher Massenunruhen im Sommer mit hohem Tempo voran. Sie suggerierten, dass es sich bei der Protestbewegung um eine einheitliche Gruppe mit einem gewissen Grad an Hierarchie handele. Informationen über mutmaßliche Anführer der Bewegung machte die ermittelnde Behörde jedoch nicht öffentlich. Dafür benannte sie einen mutmaßlichen ­Finanzier: Der Fonds zur Bekämpfung von Korruption (FBK) des Oppositionellen Aleksej Nawalnj habe über mehrere Jahre hinweg durch Geldwäsche die nötige Summe erwirtschaftet und auf den Tag X hingearbeitet. Doch anstelle eines großen politischen Strafprozesses erfolgte die Aburteilung Einzelner in Blitzverfahren. Die Ermittlungen gegen sechs Beschuldigte wurden eingestellt.