Brand in französischer Chemiefabrik

Atem- und Erklärungsnot

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Unter dem Druck der Öffentlichkeit ordnete Philippe an, die Liste der bei Lubrizol gelagerten chemischen Substanzen zu veröffentlichen. Dies geschah ab dem 1. Oktober auf der Website der Präfektur in mehreren Schritten. Das erste dort publizierte Dokument enthielt nur Angaben zur industriellen Verwendung der aufgeführten Stoffe, nicht zu deren spezifischen Risiken. Weitere Dokumente enthielten dann nähere Angaben, ein halbes Dutzend Stoffe war demnach mit dem Kürzel »H304« versehen. Das bedeutet: »Kann bei Verschlucken und Eindringen in die Atemwege tödlich sein«. Experten empfanden die Liste aus weiteren Gründen als wenig hilfreich: Produkte seien unter ihrem Code-, jedoch nicht ihrem Handelsnamen aufgelis­tet und nicht immer eindeutig identifizierbar. Gefahrenanalysen seien zwar aufgeführt, jedoch mitunter nur auf einige Fragestellungen ausgerichtet, während etwa Wechselwirkungen mit anderen Stoffen nicht thematisiert worden seien.

Am fünften Tag nach dem Unglück demonstrierten rund 2 000 Menschen in Rouen. Mehrere Hundert Menschen versuchten kurz darauf, sich auch gegen den Willen der Behörden Zugang zu einem Treffen des Krisenstabs in Anwesenheit des Präfekten zu verschaffen, und störten dieses dadurch erheblich.

Bemerkenswert ist, dass es neben NGOs Gewerkschaften waren, die die Demonstration am 30. September or­ganisiert hatten, darunter die Orts- und Kreisverbände der CGT, des eher linken, mitgliederstärksten Gewerkschaftsverbands in Frankreich, und von Solidaires (SUD), eines Zusammenschlusses linker Basisgewerkschaften. Noch vor 30 Jahren hätte die CGT zweifellos den Erhalt der Industriearbeitsplätze über ökologische Bedenken gestellt. In den vergangenen zwei Wochen war die CGT hingegen federführend bei der Kritik an den ökologischen Folgen des Brandes und organisierte Proteste, auf denen viele Demonstrierende die Schließung des Lubrizol-Werks in Rouen forderten. Die örtliche CGT handelt unter dem Druck der Öffentlichkeit, aber auch eigener Mitglieder, die nicht in der Chemieindustrie arbeiten, sondern etwa in Kindergärten, die unter dem Rauch und Ruß litten, oder bei der Feuerwehr. Mehrere Feuerwehrleute mussten nach dem Einsatz bei Lubrizol stationär behandelt werden.

Im Chemiewerk selbst ist die CGT nicht stark vertreten. Dort dominiert die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT, an zweiter und dritter Stelle ­folgen die christliche Gewerkschaft CFTC und die Spartengewerkschaft der höheren Angestellten, CFE-CGC. Diese Verbände äußerten sich in den ersten ­Tagen nach dem Brand nicht zu den Umweltfolgen und den Risiken und Belastungen der Bevölkerung. Unter dem Druck der Öffentlichkeit bekundeten am Samstag schließlich auch CFDT, CFTC und CFE-CGC in einer Pressemitteilung, die »Gesundheits- und Umweltsorgen der Bevölkerung« zu teilen. Man habe sich allerdings bisher darauf konzentriert, »besorgte Mitarbeiter zu begleiten«, und deswegen nicht ­öffentlich Stellung bezogen. Nun fordern auch diese Gewerkschaften Aufklärung durch die Justiz, aber auch durch eine unabhängige Expertenkommission.

Die Eigentümer von Lubrizol behaupten bislang, das Feuer habe eine externe Ursache, die noch nicht aufgeklärt sei.