Der neue Stalin-Kult in Russland

»Die Geschichte wird umgeschrieben«

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Interview Von

Wie verhalten sich denn Einrichtungen wie das staatliche Gulag-Museum?
Es ist ehrlich darum bemüht, den Opfern Anerkennung zu verschaffen. Aber in der Ausstellung wird die derzeitige Auseinandersetzung über das Gedenken komplett ausgeblendet. Das Museum nutzt als staatliche Einrichtung den von Staats wegen vorgegebenen Raum. Wenngleich es bemüht ist, seinen Freiraum zu erweitern. ­Ansatzweise werden Verantwortliche zwar benannt, aber der Gulag als Extremform des staatlichen Systems fehlt in der Darstellung. Angesichts der jetzigen Verhältnisse ist ein solches Museum dennoch eine Wohltat. Sollte die Museumsleitung ausgetauscht werden, wäre das für uns ein Warnzeichen. Sie treffen uns immer an unseren Schwachpunkten. Das ist die Lehre aus den neunziger Jahren für uns Historiker, Menschenrechtler, Demokraten und auch für die Linke. Der Staat zieht auf raffinierte Weise Nutzen aus unseren Fehlern.

Um welche Fehler geht es?
Es war ein großer Fehler zu glauben, dass sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen lässt. Mit Schwierigkeiten haben wir gerechnet, aber nicht damit, dass Stalin einmal wieder als großer verdienstvoller Anführer gilt. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, warum wir das in den Neunzigern nicht begriffen haben. Für Menschen wie mich, die sich seit über 30 Jahren mit dem Thema auseinandersetzen, ist das eine Tragödie. Zu Sowjetzeiten dachten wir, die Menschen wissen nicht Bescheid und müssen einfach nur die Wahrheit erfahren. Aber das stellte sich als philosophischer und politischer Irrtum heraus. Zudem haben wir die mediale Revolution verpasst. Über die Jahre hat Memorial unglaublich viel Material angehäuft, aber erst jetzt für eine breite Öffentlichkeit aufgearbeitet. Unsere Aufrufe für Freiheit und Demokratie nehmen viele Menschen als veraltet wahr und es fällt uns schwer, nach all den vielen Enttäuschungen die Notwendigkeit dieser Werte eingängig zu begründen. Wir verweisen auf keine neuen, sondern immer wieder auf alte Gewissheiten und grenzen uns dabei von Nationalisten und Populisten ab. Ihnen gegenüber nehmen wir eine Verteidigungshaltung ein, ohne der Gesellschaft attraktive Angebote zu machen, unsere Sichtweise zu teilen. Auch jungen Menschen haben wir wenig zu bieten. Dabei geht es letztlich um die Frage, in welcher Gesellschaft sie einmal leben werden.

Was bringt junge Menschen dazu, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Sie verstehen sehr wohl, dass es Debatten über Erinnerungsfragen gibt, sehen stellenweise sogar Parallelen zur Vergangenheit. Echte Repression haben sie selbst nicht erlebt, aber fast in jeder ­Familie gab es Verfolgte, und sie wollen verstehen, wie ihre eigenen Angehörigen überlebt haben. Im Vordergrund steht weniger die Geschichte an sich, als ihre Bedeutung für die Gegenwart.

Gibt es unter Stalin-Anhängern ­Angehörige der jüngeren Genera­tion?
Sicher. Auch sie suchen ja nach einer Stütze, auch wenn es sich in dem Fall um einen Irrweg handelt. Jeder kennt die Schwierigkeit, Entscheidungen treffen zu müssen. Viele Menschen wollen, dass andere dies für sie tun. Im Übrigen war der Fehler unserer Reformer in den neunziger Jahren, dass sie dachten, die ökonomische Freiheit führe zu steigender allgemeiner Freiheit. Das ist nicht passiert.