Regionale Ungleicheiten in Europa

Wer hat, dem wird gegeben

Die Europäische Union wünscht eine »harmonische Entwicklung« der Mitgliedsstaaten. Doch Studien zeigen, dass die Tendenz seit Jahren in die entgegengesetzte Richtung zeigt.

»Konvergenz« und »Kohäsion« – mit diesen Begriffen beschreibt die Europäische Union ihr Ziel, das Entwicklungsniveau ihrer Mitgliedsländer anzugleichen. Die Realität sieht anders aus: Hamburg verfügt pro Kopf über 202 Prozent des EU-Durchschnittswohlstands, der ärmlichste Winkel Bulgariens über 31 Prozent. Ganz oben steht das Zentrum von London mit 626 Prozent.

Die Kluft zwischen prosperierenden und abgehängten Regionen ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine demographische und damit soziale und politische.

Diese enorme regionale Ungleichheit hat nicht nur historische Gründe. Sie wird durch die Standortkonkurrenz und Wirtschaftskrisen reproduziert. Während einige EU-Staaten wie Deutschland auch in den vergangenen Jahren reicher wurden, erlebten andere wirtschaftliche und soziale Krisen. Die Finanzkrise warf Südeuropa zurück – dass die Mittelmeerländer vor 2008 aufgeholt hätten, erwies sich als Illusion.

Insgesamt hat sich die europäische Wirtschaft von der Krise erholt – allerdings beginnt die nächste Phase der Rezession bereits. In den vergangenen sieben Jahren wuchs die europäische Wirtschaft wieder. Aber deutlich zeigt sich, wie außerordentlich ungleich dieses Wachstum geographisch verteilt ist.

»Einige Regionen prosperieren, andere drohen dauerhaft zu stagnieren«, heißt es in einem im Mai veröffentlichten Bericht der niederländischen Großbank ING Groep N.V. Es geht dabei nicht nur um unterschiedliche Entwicklungen in Nord- und Südeuropa. Das Problem, so die Schlussfolgerung der Studie, sei, dass dynamische, wachsende Regionen und solche mit Abwanderung und hoher struktureller Arbeitslosigkeit immer mehr auseinanderdriften. Erstere seien »urban und jünger«, Letztere »ländlich und alternd«. Die einen prosperierten in der globalen Ökonomie, die anderen seien eher provinziell und befänden sich im Niedergang.

 

Dass es in Europa große Wohlstandsgefälle gibt, ist nicht neu. Doch die Verhältnisse glichen sich im 20. Jahrhundert eher an, weil weniger entwickelte Regionen zur industriellen Moderne aufschlossen. Seit 1980 ist das vorbei: Die regionalen Entwicklungsunterschiede in Europa wachsen wieder, seit einigen Jahren in erhöhtem Tempo.

Ein Forscherteam an der Berliner Humboldt-Universität hat die regionalen Wirtschaftsentwicklungen in Europa seit 1900 untersucht. »Es scheint eine wachsende räumliche Spaltung zu geben. Das ist ein langfristiger Trend, der sich allerdings vor kurzem verstärkt hat. Es gibt Inseln der Prosperität auf einem Meer der Stagnation«, schrei­ben die Forscher in ihrem Bericht.

Ein Grund dafür ist die gewandelte Wirtschaftsstruktur. Noch in der Nachkriegszeit expandierte die Industrie, wozu sie billiges Land und billige Arbeitskräfte benötigte. In den USA war es das Zeitalter der Vororte, der suburbs. Heutzutage findet die billige Massenproduktion meist außerhalb Europas statt. Und die Hightech-Industrie ist ebenso wie die Dienstleistungsindustrie räumlich konzentriert – sie siedelt sich dort an, wo bereits Infrastruktur, Know-how, Märkte oder andere Firmen vorhanden sind. Fortschritte in der Kommunikationstechnologie und der Logistik ließen die Attraktivität der Städte weiter wachsen. Die EU wird noch urbaner, als sie es schon war, und auch die ökonomische Aktivität konzentriert sich immer stärker in den Städten, mit Ausnahme jener ehemaligen Industriestädte, die sich im Niedergang befinden. In fast allen EU-Ländern konzentriert sich das Wirtschaftswachstum auf die Hauptstädte und andere Ballungszentren, besonders Paris und London stechen hervor. Das relativ arme Berlin ist eine Ausnahme, verändert sich aber rasant.

Auch die Standortkonkurrenz auf dem Weltmarkt lässt einige Regionen prosperieren und andere stagnieren. Die Studie der ING Groep zeigt, dass in den vergangenen zehn Jahren in Europa dort die meisten Arbeitsplätze entstanden, wo am meisten in Forschung und Entwicklung investiert wurde: ein dicht besiedelter Gürtel zwischen Liverpool und Wien, plus einiger großer urbaner Zentren in Skandinavien.

 

Eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderte Forschergruppe der Johannes-Kepler-Universität Linz kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Auch sie stellte fest: Einige Regionen profitierten von der Standortkonkurrenz, andere gerieten ins Hintertreffen. Der entscheidende Faktor, so die Gruppe der Universität Linz, seien die »technologischen Kapazitäten« einer Region. Abgesehen von Steueroasen wie Irland oder Finanzzentren wie Luxemburg seien in Europa Regionen, in denen diese Kapazitäten in hohem Grad vorhanden seien, am wohlhabendsten. Entscheidend seien technisch führende Unternehmen, die am meisten in Entwicklung investieren können und die komplexesten Produkte für den Weltmarkt herstellen, und Forschungseinrichtungen, die international Talente anziehen. Dass unterentwickelte Regionen aufschlössen, sei deshalb selbst innerhalb der EU so gut wie unmöglich. Vielmehr sei die Polarisierung selbstverstärkend: »Vergangene Erfolge sind die Basis für zukünftige Erfolge.« Das führe dazu, dass Unternehmen, die bereits die globalen Märkte dominierten, etwa in Deutschland, ihre Führung im europäischen Wettbewerb immer weiter ausbauten, »während technologisch schlechter gestellte Länder weiter zurückfallen«, so das Fazit der Forschungsgruppe.

Selbst in Osteuropa, das zum Billigfertigungsgebiet für die westeuropäische Industrie wurde, sei höchstens den vier Visegrád-Staaten, der »Werkbank des industriellen Kerneuropas«, ein begrenzter Aufstieg im Bereich der technologischen Kapazitäten gelungen. Rumänien, Estland, Lettland und Litauen hingegen blieben in diesem Sinne Peripherie. Besonders Teile Südeuropas fielen in der Entwicklung immer weiter zurück. Umfangreiche politische Eingriffe seien nötig, um vom Markt geschaffenen Hierarchien zu nivellieren, so die Forscher aus Linz.

Derzeit investiert die EU bereits viel Geld in »Kohäsions- und Strukturpolitik«, um die durch Marktkräfte hergestellten regionalen Ungleichgewichte auszugleichen. 454 Milliarden Euro sind allein für den Zeitraum 2014 bis 2020 vorgesehen. Das Geld kommt vor allem schwächeren Regionen zugute und soll Standortnachteile beheben. Forschung, Entwicklung, Bildung, Infrastruktur und Unternehmen werden so von EU-Fonds gefördert.

Doch die Kluft zwischen prosperierenden und abgehängten Regionen ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine demographische und damit soziale, kulturelle und politische. Denn Wachstumsregionen ziehen immer mehr junge und gut qualifizierte Menschen an, die aus den stagnierenden Regionen abwandern. »Erfolgreiche urbane Regionen absorbieren immer mehr junge Menschen mit guten Abschlüssen, und dieser Trend nimmt weiter zu«, heißt es in einem Papier des Brüsseler Center for European Reform. Die Folge sei eine zunehmende geographisch-politische Sortierung der Bevölkerung: hier gut gebildete junge Menschen, oft mit liberalen Einstellungen, dort ältere, weniger gebildete Menschen, die nicht selten populistisch wählen.

 

Tatsächlich nehmen Re­gionen, in denen die meisten Menschen in der Wissenschaft oder der Technologiebranche beschäftigt sind, die meisten Arbeitsmigranten auf: Deutschland, Österreich, Norditalien, Skan­dinavien, Großbritannien, Südfrankreich. In wirtschaftlich schwächelnden Regionen ist die Bevölkerung tenden­ziell älter, ungebildeter, oft auch mehrheitlich männlich, vor allem aber schrumpft sie.

Denn auch die rapide Überalterung Europas stellt sich geographisch sehr ungleich dar: In vielen wohlhabenden Regionen wächst die Bevölkerung, während einige ländliche Regionen in der Peripherie geradezu aussterben oder vergreisen, sei es im Baltikum, in Spanien, Griechenland, Süditalien, Kroatien, Ostdeutschland oder einigen Regionen Frankreichs.

Die Migration innerhalb Europas ist ein Produkt des internen Wohlstands­gefälles. Ein Phänomen der vergangenen Jahre war die Abwanderung der jungen Generation aus Südeuropa. Doch auch aus Osteuropa ziehen immer mehr junge Menschen weg. Die Bevölkerung Rumäniens ist im vergangenen Jahrzehnt um fünf Prozent geschrumpft, die von Litauen um fast zehn Prozent, und auf den EU-Beitritt Kroatiens 2013 folgte ein Bevölkerungsrückgang von über 200 000 Menschen – fast fünf Prozent der Bevölkerung in sechs Jahren.

Die Abwanderung war so stark, dass vor allem Polen und Ungarn inzwischen ein großes Problem mit dem Arbeitskräftemangel haben. Obwohl dort die Furcht vor außereuropäischer Einwanderung die öffentlichen Debatten bestimmt, sorgen sich, so das Ergebnis einer Umfrage des European Council on Foreign Relations, viele Länder – Rumänien, Ungarn, Spanien, Italien, Griechenland und andere – eher um die Folgen der Abwanderung als um die der Zuwanderung. Vor einem Jahr erregte der rumänische Finanzminister Eugen Teodorovici Aufsehen, als er sogar die zeitliche Beschränkung der Freizügigkeit vorschlug, damit Emigranten wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen.

Dabei ist die Situation der Staaten, die in die EU aufgenommen wurden, noch vergleichsweise günstig. Düsterer sieht es in der vom Krieg gezeichneten Ukraine aus. Millionen Bürger haben das Land verlassen, um in Polen oder Russland Arbeit zu suchen. Schlecht ist die Lage auch in Nordafrika, wo die arbeitslose Jugend vor den verschlossenen ­Toren Europas steht; oder auf dem Westbalkan, wo vielerorts die Hoffnung schwindet, jemals in demokratischen und prosperierenden Gesellschaften zu ­leben.

Der bulgarische Politologe Ivan Krăstev stellte die These auf, die Stärke illiberaler Kräfte in Mitteleuropa sei eine Folge der »demographischen Ängste, die die Emigration dort hinterlassen hat«. Nur so sei zu erklären, dass dort rechte Parteien am stärksten seien, wo es »den größten Ausfluss an Bevölkerung« gegeben habe.

Jedenfalls erscheint es plausibel, dass die politischen Spannungen, die Europa zur Zeit kennzeichnen – zwischen liberalen und nationalistsichen Kräften, kosmopolitischen und provinziellen Tendenzen – auch mit der ökonomischen Polarisierung zu tun haben, bei der das Hinterland verkümmert, während die dynamischen Ballungszentren prosperieren. Scharfe Konflikte dürften so programmiert sein.