Missverständnisse bei der Lektüre von Ronald M. Schernikaus »legende«

Zu schön, um wahr zu sein

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Als eine solche erscheint der Film »So Pretty« der Filmemacherin Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli, der 2019 auf der Berlinale gezeigt wurde. Bei »So Pretty« handelt es sich um die Verfilmung eines Bruchstücks der »legende«, nämlich der Einlage »und als der prinz mit dem kutscher tanzte, waren sie so schön, dass der ganze hof in ohnmacht fiel«. Diese Einlage zu verfilmen, liegt in gewisser Weise nahe, denn sie trägt den Untertitel »ein utopischer film«. »So schön« geht auf Arbeiten Schernikaus an einem Drehbuch zurück, doch der Text, wie er in der »legende« steht (und wie er 2012 im Zuge der Schernikau-Renaissance als selbständiges Buch veröffentlicht wurde) ist kein Drehbuch, sondern ein Erzähltext, der sozusagen einen Film nach- oder besser: vorerzählt. Der Text stellt eine Konstellation von vier jungen Männern vor, die jeweils in zwei Paaren zusammenleben. Dem Prinzip von Goethes »Wahlverwandtschaften« folgend, lösen sich beide Beziehungen, und es finden sich – andeutungsweise – zwei neue Paarkonstellationen zusammen: Am Anfang ist franz mit tonio zusammen und paul mit bruno, und am Ende schlafen franz und paul miteinander, und bruno und tonio tanzen miteinander.

»So schön« ist einer der heitersten Texte, die Schernikau je geschrieben hat. Der Text ist »gut gelaunt«, wie Frings anmerkt. Getreu Schernikaus Maxime »Das Einzige, das mich interessiert bei der Arbeit, ist: Etwas loben können. Ich hasse Negation«, kultiviert »so schön« die Affirmation. Doch dieser Aspekt kann zu Missverständnissen führen. Rovinellis Film überführt Schernikaus West-Berliner schwule Konstellation der achtziger Jahre in eine queere New Yorker Subkultur der Jetztzeit. Und alle sind dabei: Trans und queer, Schwarze, Weiße und Latinx, die Mutter eine Butch, der Freundeskreis durch und durch divers. Natürlich spielt BDSM eine Rolle, und natürlich sind alle politisch engagiert: Sie setzen sich gegen das ein, was sie als »Trumps Faschismus« missver­stehen. Der Film folgt dieser Viererkonstellation und ihrem Freundeskreis und schließt ihre Geschichte mit Fragmenten aus Schernikaus Text kurz, die immer wieder von den Figuren vorgetragen werden.

Doch das Leben der New Yorker Queers ist unendlich langweilig. Schernikaus Text ist von einem grundsätzlichen Konflikt gekennzeichnet: »dieser film erzählt von vier jungen menschen, die versuchen, ihre liebe zu organisieren. ihr problem ist, daß ihre liebe längst organisiert ist. ihre liebe ist organisiert in ausschließlichkeit, in notwehr und zweisamkeit.« Dieser Konflikt führt dazu, dass die beiden ursprünglichen Paarbeziehungen unerträglich werden: für die einen, weil sie die Seitensprünge des Partners nicht ertragen, für die anderen, weil sie die Ausschließlichkeit nicht aushalten. So heiter der Text als Ganzes erscheint, so deutlich räumt er dem Schmerz und dem Leiden, das mit dem Konflikt einhergeht, einen Platz ein. In »So Pretty« hängen alle Beteiligten einer queeren Ideologie der Konfliktfreiheit an. Natürlich sind alle gegen Trumps »Faschismus«, natürlich sind alle für Polyamorie, natürlich schlafen alle mit allen – Geschlecht spielt keine Rolle. Das führt dazu, dass der Film schlicht nichts zu erzählen hat. Endlose Kameraeinstellungen begleiten die Protagonisten durch ihren widerspruchsfreien Alltag. Sogar der Sex (oder was davon übrig ist) ist bereinigt von jedem Widerspruch: Noch nie sind wohl Sex- und SM-Szenen gedreht worden, die so von Er­regung befreit sind. »So Pretty« sieht aus wie ein Werbefilm für eine Firma, die eine gründliche Diversity-Beratung hinter sich hat.