Missverständnisse bei der Lektüre von Ronald M. Schernikaus »legende«

Zu schön, um wahr zu sein

Konfliktfreiheit statt Dialektik: Über die Fehllektüre von Ronald M. Schernikau im Film »So Pretty«.

Zugegeben: Es ist harte Arbeit, Ronald M. Schernikaus Hauptwerk »legende« am Stück zu lesen. Die eigentliche Handlung, die sich in den Hauptteilen entwickelt, ist nicht dazu konstruiert zu fesseln. Und weniger erzählerischer Aufwand, um den Figuren psychologische Tiefe zu verleihen, wurde in der Literatur wohl nur selten betrieben. Darüber hinaus wird jeder sich möglicherweise anbahnende Erzählfluss auf jeder erdenklichen Ebene permanent und in penetranter Weise durch Einsprengsel aller Art unterbrochen: Auf der Ebene der Hauptteile, der Makroebene, sind ganze frühere Werke Schernikaus als Einlagen integriert. Innerhalb der Teile finden sich ebenfalls Binneneinlagen. Schließlich wurden auf der Mikroebene Aphorismen in ungezählter Zahl eingestreut, die manchmal nur mit Mühe mit dem unmittelbar vorher und nachher Gesagten in Verbindung zu bringen sind. Im letzten Teil bemerkt der Erzähler – oder wer auch immer, so klar ist das alles nicht: »man steigt schon längst nicht mehr durch.«

Es braucht einen langen Atem, um die »legende« zu lesen, doch langatmig ist sie nicht. Sie ist geistreich, witzig, streckenweise albern.

Es braucht einen langen Atem, um die »legende« zu lesen, doch lang­atmig ist sie nicht. Sie ist geistreich, witzig, streckenweise albern. Man begegnet einer Fülle von Material, das nach einem wahnwitzigen Plan montiert ist und das sich wechselseitig beleuchtet und kommentiert. Dieser Großtext lebt davon, dass er sich am laufenden Band widerspricht. Das, was der Text sagt, kann er nur durch die Widersprüche hindurch sagen. Wer ein Fragment herausbricht und nur dieses betrachtet, kann Glück haben und einen brillanten Aufsatz wie »politik mögen« herausgreifen – oder aber erwischt einen äußerst banalen Witz. Das »Buch der dreizehn Witze« wird erst als Ganzes und erst im Zusammenhang der »­legende« lesenswert. Einzelne seiner Witze sind unerträglich. In seiner Schernikau-Biographie »Der letzte Kommunist« berichtet Matthias Frings von der verbreiteten Art, die »legende« als »Schatzkästlein« oder »Steinbruch« zu verstehen, aus dem man hier und da ein Fragment zur Kenntnis nimmt. Doch die »legende« funktioniert so nicht. Sie funktioniert als aberwitzige Montage, als disparate Großform, in der das Material zwar seine Einzelgestalt behält, der Gestaltung aber in der Montage unterworfen wird.

Nachdem Frings’ Biographie 2009 eine Art Schernikau-Renaissance eingeleitet hatte, wurde Schernikau in großstädtischen, oft schwulen, linken Milieus populär. Der Autor, der ein Leben lang inner- und außerhalb seiner Texte an einer Selbst­stilisierung gearbeitet hatte, wurde zur Identifikationsfigur für viele kommunistische Schwule, Lesben und Transmenschen. Diese Rezeption der Figur Schernikau als Ikone passt zur Lektürepraxis des Steinbruchs: Man greift sich heraus, was man brauchen kann, und lässt den Rest liegen. Das ist nicht an sich zu verurteilen: Besser die Menschen lesen ein bisschen Schernikau, als dass sie ihn gar nicht lesen. Doch dramatische Fehllektüren sind nicht ausgeschlossen.

 

Als eine solche erscheint der Film »So Pretty« der Filmemacherin Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli, der 2019 auf der Berlinale gezeigt wurde. Bei »So Pretty« handelt es sich um die Verfilmung eines Bruchstücks der »legende«, nämlich der Einlage »und als der prinz mit dem kutscher tanzte, waren sie so schön, dass der ganze hof in ohnmacht fiel«. Diese Einlage zu verfilmen, liegt in gewisser Weise nahe, denn sie trägt den Untertitel »ein utopischer film«. »So schön« geht auf Arbeiten Schernikaus an einem Drehbuch zurück, doch der Text, wie er in der »legende« steht (und wie er 2012 im Zuge der Schernikau-Renaissance als selbständiges Buch veröffentlicht wurde) ist kein Drehbuch, sondern ein Erzähltext, der sozusagen einen Film nach- oder besser: vorerzählt. Der Text stellt eine Konstellation von vier jungen Männern vor, die jeweils in zwei Paaren zusammenleben. Dem Prinzip von Goethes »Wahlverwandtschaften« folgend, lösen sich beide Beziehungen, und es finden sich – andeutungsweise – zwei neue Paarkonstellationen zusammen: Am Anfang ist franz mit tonio zusammen und paul mit bruno, und am Ende schlafen franz und paul miteinander, und bruno und tonio tanzen miteinander.

»So schön« ist einer der heitersten Texte, die Schernikau je geschrieben hat. Der Text ist »gut gelaunt«, wie Frings anmerkt. Getreu Schernikaus Maxime »Das Einzige, das mich interessiert bei der Arbeit, ist: Etwas loben können. Ich hasse Negation«, kultiviert »so schön« die Affirmation. Doch dieser Aspekt kann zu Missverständnissen führen. Rovinellis Film überführt Schernikaus West-Berliner schwule Konstellation der achtziger Jahre in eine queere New Yorker Subkultur der Jetztzeit. Und alle sind dabei: Trans und queer, Schwarze, Weiße und Latinx, die Mutter eine Butch, der Freundeskreis durch und durch divers. Natürlich spielt BDSM eine Rolle, und natürlich sind alle politisch engagiert: Sie setzen sich gegen das ein, was sie als »Trumps Faschismus« missver­stehen. Der Film folgt dieser Viererkonstellation und ihrem Freundeskreis und schließt ihre Geschichte mit Fragmenten aus Schernikaus Text kurz, die immer wieder von den Figuren vorgetragen werden.

Doch das Leben der New Yorker Queers ist unendlich langweilig. Schernikaus Text ist von einem grundsätzlichen Konflikt gekennzeichnet: »dieser film erzählt von vier jungen menschen, die versuchen, ihre liebe zu organisieren. ihr problem ist, daß ihre liebe längst organisiert ist. ihre liebe ist organisiert in ausschließlichkeit, in notwehr und zweisamkeit.« Dieser Konflikt führt dazu, dass die beiden ursprünglichen Paarbeziehungen unerträglich werden: für die einen, weil sie die Seitensprünge des Partners nicht ertragen, für die anderen, weil sie die Ausschließlichkeit nicht aushalten. So heiter der Text als Ganzes erscheint, so deutlich räumt er dem Schmerz und dem Leiden, das mit dem Konflikt einhergeht, einen Platz ein. In »So Pretty« hängen alle Beteiligten einer queeren Ideologie der Konfliktfreiheit an. Natürlich sind alle gegen Trumps »Faschismus«, natürlich sind alle für Polyamorie, natürlich schlafen alle mit allen – Geschlecht spielt keine Rolle. Das führt dazu, dass der Film schlicht nichts zu erzählen hat. Endlose Kameraeinstellungen begleiten die Protagonisten durch ihren widerspruchsfreien Alltag. Sogar der Sex (oder was davon übrig ist) ist bereinigt von jedem Widerspruch: Noch nie sind wohl Sex- und SM-Szenen gedreht worden, die so von Er­regung befreit sind. »So Pretty« sieht aus wie ein Werbefilm für eine Firma, die eine gründliche Diversity-Beratung hinter sich hat.

 

Wahrscheinlich beruht eine solche Lesart Schernikaus auf einem Missverständnis dessen, was Affirmation und was Utopie in Schernikaus Texten bedeutet: Wenn »so schön« ein »utopischer film« ist, dann nicht deshalb, weil das Erzählte als »Utopie« aufzufassen wäre. »Utopisch« ist »so schön« nicht in dem Sinne, in dem Thomas Morus’ »Utopia« von 1516 »utopisch« ist. Morus’ Text, der Gründungstext der Gattung Utopie, schildert bis ins kleinste Detail, wie eine optimale Gesellschaft gestaltet sein müsste: »Über den bestmöglichen Zustand des Staates« lautet denn auch sein Untertitel.

Schernikaus »utopischer film« ist weit davon entfernt, das, was er erzählt, was sich unter den Voraussetzungen des Spätkapitalismus unter schwulen Kommunisten abspielt, für einen bestmöglichen Zustand zu halten. Es ist zu befürchten, dass »So Pretty« die Ödnis, die geschildert wird, für utopisch in diesem Sinne hält. Schernikaus Text ist ein utopischer Film in dem Sinne, dass er als Film utopisch ist. Wie die Schlager, die der Text zitiert, wie die Märchenwelt, auf die er anspielt, führt »so schön« den Konflikt einem glücklichen Ende zu. Doch wer die Affirmation des Happy Ends für Utopie hält, der unterschätzt Schernikau dramatisch. Dass man so einfach den Frieden mit der Subkultur nicht machen kann, könnte man auch aus der in der »legende« vorhergehenden Einlage »die heftige variante des lockerseins« erfahren, ein wenig heiterer und wenig gut gelaunter Text. Das Utopische an »so schön« ist das Erzählen von einem Film. Der Text lädt seine Leserinnen nicht dazu ein, sich die erzählte Geschichte als sich ereignend vorzustellen, sondern er lädt ein, sich die Verfilmung der erzählten Geschichte als sich ereignend vorzustellen. Die utopische Affirmation betrifft den erzählten Film, betrifft die doppelte Vermittlung, betrifft auch die Sprache des Textes, jene hochgradig stilisierte kindliche Einfachheit. »schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen«, schreibt Schernikau in »die tage in l«. Man muss genau lesen, um zu sehen, dass das Versprechen das dass und nicht das was betrifft.

Die Neuausgabe der »legende« ist eine Chance, diese Montage als Ganzes zu erleben, aber auch, ihre Teile durch den Kontext der Montage genauer in den Blick zu bekommen. Die Perspektive der »legende« ist eine Retrospektive nach dem historischen Einschnitt, den Schernikau nur als Sieg der Konterrevolution bezeichnen wollte. Kunst ist hier und jetzt nur in Widersprüchen und als Widerspruch möglich. Aus der Sicht der gesamten »legende« erscheint es geradezu als absurd, das im »utopischen film« »so schön« Erzählte ­unter den Voraussetzungen von konformistischem Queerfeminismus als sogenannte »Utopie« ins heutige gesellschaftliche Elend zu über­tragen.