Der türkische Einmarsch in Nordsyrien

Statt Vertreibung Unterdrückung

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Die Spaltung seiner parlamentarischen Gegner in eine türkische und eine kurdische Opposition ist nicht der einzige innenpolitische Gewinn, den Erdoğan mit der Invasion erzielt hat. Zwei seiner früheren Weggefährten, der ehemalige Wirtschaftsminister Ali ­Babacan und der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, wollten ­eigene Parteien gründen. Wegen der Wirtschaftskrise hätten sie Aussicht darauf gehabt, sowohl Mitglieder als auch Wähler der AKP abzuwerben und eventuell sogar Neuwahlen herbeizuführen. Darüber war bis zu Erdoğans Telefonat mit Trump in der Partei getuschelt worden. Doch die nationalistische Erregung hat die ökonomischen Sorgen verdrängt.

Deshalb muss Erdoğan sich auch um die Unterstützung des nationalistischen Lagers vorläufig nicht sorgen, obwohl sein Bundesgenosse Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen MHP, schwer erkrankt ist und ein Abgeordneter der Partei zudem zur İyi Parti überlaufen könnte. 
Selten war es so offensichtlich, dass ein Krieg auch innenpolitisch motiviert ist. Gilt das nur für den türkischen Präsidenten oder vielleicht auch für Trump? Wollte der US-Präsident das Scheitern seiner Friedensverhandlungen mit den Taliban rasch mit einer anderen Rückzugsmeldung kaschieren? Das Telefongespräch mit Erdoğan war möglicherweise ein vorbereiteter Schritt. Anfang August hatte sich Erdoğan überraschend mit den USA darauf geeinigt, eine »Sicherheitszone« in Nordsyrien einzurichten. Die Formulierungen waren vage, es ging vor allem um »vertrauensbildende Maßnahmen«. Zu diesen gehörte auch, dass die überwiegend kurdische Miliz Syrian Democratic Forces (SDF) im Vertrauen auf den Schutz durch die USA ihre Befestigungen an der Grenze abbauten. Bei den türkischen Streitkräften herrschte helle Aufregung über den Pakt mit den als unzuverlässig eingestuften USA. Hohe Offiziere und Geheimdienstler traten zurück oder wurden pensioniert. Erdoğan stand zur Vereinbarung mit den USA. Wusste er, was folgen würde?

Es ist gleichgültig, ob sich Trump bereits im Juli dazu entschlossen hat, seine kurdischen Verbündeten im Stich zu lassen, oder erst am Abend des 6. Oktober. Seine martialischen Drohungen, etwa dass er die türkische Wirtschaft »völlig zerstören« werde, wenn die Türkei nicht näher benannte Beschränkungen missachte, sind nicht mit der Aufforderung verbunden, die Invasion zu beenden. Schließlich forderte er die SDF auf, sich zurückzuziehen, denn gegen einen Gegner mit Luftwaffe könnten sie kaum gewinnen.