Belgien ist zur Drehscheibe für die Transitmigration nach Großbritannien geworden

Drehscheibe für Transitmigration

Der Fund von 39 toten Migranten in einem Kühllaster in Großbritannien zeigt einmal mehr, dass die Aufrüstung an den Grenzen am Ärmel­kanal tödliche Folgen hat. Belgien spielt für die Transitmigration und deren Kontrolle eine immer wichtigere Rolle.

Die Umstände, unter denen 39 Migranten Mitte vergangener Woche in einem Kühllaster auf dem Weg nach Großbritannien ums Leben kamen, liegen noch im Dunkeln. Welche Route der im südenglischen Grays aufgefundene LKW zuvor zurücklegte, war Anfang der Woche noch nicht bekannt, ebenso wenig, wer die Fahrt organisierte. Auch die Rolle der beiden festgenommenen Fahrer ist noch ungeklärt. Einer von ihnen wird des 39fachen Totschlags, Menschenschmuggels, der Hilfe zur ­illegalen Immigration sowie Geldwäsche beschuldigt. Aufschluss über Details und Hintergründe sollen diese Woche Befragungen der Fahrer geben. Drei andere Verdächtige wurden am Wochenende gegen Kaution vorübergehend freigelassen.

Teilweise geklärt ist hingegen die Frage nach den Herkunftsländern der Opfer. Zunächst hieß es, es handele sich um Chinesen; nach Angaben der BBC sollen sich aber mindestens drei Vietnamesen unter den Toten befinden. Nach Aussagen einer vietnamesischen NGO könnten es auch mehr sein. Der Kühlcontainer war nachmittags im ­Hafen des belgischen Zeebrügge abgeladen und am Abend desselben Tages ins britische Purfleet verschifft worden. Sowohl in Großbritannien als auch in Belgien ist in den vergangenen Jahren die Zahl ausgebeuteter vietnamesischer Migrantinnen in billigen Nagelstudios deutlich gestiegen.

Die belgische Tageszeitung De Morgen vergleicht den Fall mit dem Menschenschmuggel der chinesischen Mafia – vor allem mit dem Fund von 58 Leichen in einem Tomatentransporter im Juni 2000 im Hafen von Dover. Damals handelte es sich bei den Opfern tatsächlich um Chinesen. Der Abfahrtshafen war ebenfalls Zeebrügge. 1993 lief der aus Bangkok kommende Frachter »Golden Venture« vor New York City auf Grund. Beim Versuch, die Küste zu erreichen, starben zehn der auf dem Schiff versteckten Migranten. Auch 2014 gab es in einem Hafen der englischen Grafschaft Essex einen ­Todesfall: In Tilbury, gut zehn Kilometer östlich von Purfleet gelegen, konnte ­einer von 35 afghanischen Sikhs, die in einem aus Zeebrügge kommenden Container versteckt waren, nur noch tot geborgen werden. Damals wie heute betonten belgische Behörden, die ­Menschen müssten sich schon bei der Ankunft in Zeebrügge in den Containern befunden haben.

Schon vor der Klärung weiterer ­Details bestätigt der aktuelle Fall, dass sich der Seehafen der Stadt Brügge in den vergangenen Jahren zur Drehscheibe für die klandestine Kanalüberquerung entwickelt hat. Dies gilt für ­organisierten Menschenschmuggel ebenso wie für die in Belgien »Transitmigranten« genannten Geflüchteten, die versuchen, sich in Belgien nicht registrieren zu lassen und unbemerkt nach Großbritannien zu gelangen. Dass sich beide Phänomene überlagern, wird immer offensichtlicher, je mehr die Kontrollen in den Häfen, an der Küste und im Hinterland verschärft werden.

Belgien ist für die Überquerung des Ärmelkanals immer wichtiger geworden. Wurde für die klandestine Überfahrt früher meist das französische ­Calais genutzt, sind es heute oft belgische Städte, Dutzende Kilometer ­weiter nordöstlich (Jungle World 9/2016). Seit der Einstellung der Fährverbindung zwischen Ostende und Rams­gate betrifft dies Zeebrügge besonders. 2018 wurden nach Angaben des belgischen Innenministeriums 2 603 Per­sonen festgenommen, die in den Hafen von Zeebrügge eingedrungen waren. 2019 waren es allein bis Ende August 1779.

Die unscheinbare Kleinstadt Zeebrügge nahe der niederländischen Grenze ist indes nur einer der für die Überfahrt relevanten Orte in Belgien. Trucker dort bestätigen seit Jahren, dass sich das Geschehen immer mehr auf zahlreiche Autobahnrastplätze im Landesinneren verlagert. So wurden am Wochenende nicht nur zehn irakische Transitmigranten festgenommen, die ein Lastwagenfahrer kurz vor Zeebrügge in der Fracht bemerkt hatte, sondern bei Sint-Truiden, knapp 200 Kilometer von der Küste entfernt, auch elf aus Eritrea stammende Migranten. Im Hafen von Calais fand die britische Grenzpolizei am Sonntagmorgen acht Menschen in einem Kühllaster.