Das Politikum »­Sesamstraße«

Das Monster als Revolutionär

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Es gibt zahlreiche Adaptionen, bei denen nationale Fernsehsender teilweise recht frei koproduzierten. Der deutsche NDR begann – nach Italien, Mexiko, Brasilien und Kanada – als fünfter Partner mit synchronisierten Testsendungen im Sommer 1972 und mit offiziellen Ausstrahlungen ab 1973. Insgesamt wird die »Sesame Street« heute in 150 Ländern gezeigt, von ­Afghanistan bis Südafrika. Vor Ort ­kooperieren die Produzenten auch mit NGOs, um in der Hauptsendung oder einem ihrer Spin-offs regional wichtige Themen zu behandeln. So startete im Jahr 2018 »Sesame Teret Teret« in Äthiopien. Die Ausgabe in amharischer Sprache soll allgemein den Zugang zu Bildung in dem Land verbessern. In ­Niger, Mali und anderen Ländern Afrikas, im Libanon, in Jordanien, im Irak und den kurdischen Gebieten Syriens wird der Schwerpunkt auf Erziehung zu Hygiene und Gesundheitsvorsorge ­unter schwierigen Bedingungen gelegt; Themen, die für Kinder in extrem ­armen Ländern, Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern wichtig sind. Vor den Gefahren von HIV warnt das Programm in Ländern, in denen das Virus besonders weit verbreitet ist. In Ägypten will »Alam Simsim« die Geschlechtergleichheit fördern, dort durch den Charakter des vierjährigen Mädchens Khoka. In Indien kämpft das Mädchen Chamki für die Rechte von Frauen und Mädchen, in Bangladesh ist es Tuktuki. In Afghanistan sind Zari und ihr Bruder Zeerak mit einem ähnlichen Auftrag unterwegs. In Japan ist Autismus ein Schwerpunkt der Sendung. Zeitweise gab es sogar ein gemeinsames Programm für Israel und Palästina. Nachdem mit »Rechov Sumsum« bereits 1982 ein Programm in Israel bei ETV startete, folgte 1998 mit »Rechov Sumsum /  Shara’a Simsim« ein gemeinsames Programm. ­Immerhin 70 Folgen lang hielt diese Koproduktion, bei der die ­Palästinensische Autonomiebehörde, Israel und Jordanien Partner waren. Derzeit gibt es separate Versionen, eine für Israel und eine für die palästi­nensischen Gebiete. In der palästinensischen Version kommen keine Juden mehr vor.

International bevölkern mehr als 1 700 Puppen, reale oder gezeichnete Charaktere das Universum der »Sesame Street«. Neben Gordon und Susan ­Robinson waren der Musiker Bob Johnson und der Ladenbesitzer Mr. Harold Hooper die ersten menschlichen Bewohner der »Sesame Street«.

Im Jahr 1983 hielt der Tod Einzug: Nachdem Will Lee, Darsteller des Mr. Hooper, Ende 1982 verstorben war, wurde der Wegfall des Charakters nicht durch einen fiktiven Umzug thematisiert oder einfach ein anderer Schauspieler gecastet. In Folge 1 839 wurde der Tod des Charakters auf eine für Vorschulkinder geeignete Art zum Thema. Als der gelbe Big Bird von Gordon wissen möchte, warum Menschen sterben, kann dieser ihm zwar am Ende der Episode auch bloß diese Antwort geben: »Just because«, doch bis heute gilt diese Folge vielen als die vielleicht emotionalste und eine der besten überhaupt. Als Referenz und Reminiszenz blieb ein Foto von Mr. Hooper im Set späterer Folgen hängen.

Irgendwann gab sogar der BR nach. Ab Anfang 1988 wurde die Sendung auch in Bayern gezeigt, so der Sender auf Nachfrage der Jungle World. In den langen Jahren der »Sesamstraße«-Abstinenz hatten die Bayern stattdessen »Das feuerrote Spielmobil« produziert, das im Kinderprogramm der ARD ausgestrahlt wurde.

Derzeit ist die »Sesamstraße« regelmäßig nur im Kinderkanal KiKa zu ­sehen. Den früher auf einigen Dritten Programmen gezeigten alten Folgen hat man dort den Sendeplatz genommen, längst auch beim NDR – trotz ­Demonstrationen vor der Zentrale. Es geht der Sendung ein wenig wie Mr. Hooper: Sie droht, in Vergessenheit zu geraten, wenn man nicht an sie ­erinnert.


Am 10. November 1969 wurde die erste Folge der »Sesame Street« in den USA ausgestrahlt. Die kurz zuvor gegründete Non-Profit-Organisation Children’s Television Workshop (CTW) produzierte sie für das öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm zunächst im National Educational Television und von 1970 bis 2016 im Fernsehsender PBS. Seit 2016 werden die neuen Folgen der »Sesame Street« zuerst bei Home Box Office (HBO) gezeigt und später bei PBS wiederholt. Die Sendung erreicht mehr als 150 Millionen Kinder in 150 Ländern und wird in 70 Sprachen produziert.