Neue Erkenntnisse im Fall Oury Jalloh

Knochenbrüche und vernichtete Akten

Vor 15 Jahren verbrannte Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle. Für die deutsche Justiz ist der Fall abgeschlossen. Doch ein neues Gutachten belegt: Der Asylbeweber wurde vor seinem Tod schwer misshandelt.

Deutschland hat mit Oury Jalloh abgeschlossen. Am 23. Oktober teilte das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg in Sachsen-Anhalt mit, dass es im Fall des am 7. Januar 2005 in Polizeigewahrsam gestorbenen Asylsuchenden kein neues Verfahren geben wird. Es ist ein staatlicher Schlussstrich unter die gescheiterte Aufklärung des Falles – beziehungsweise unter die erfolgreiche Vertuschung der tatsächlichen Todesumstände. Eine solche Vertuschung vermuteten in den vergangenen Jahren zahlreiche Hinterbliebene, Aktivistinnen, Politiker und Journalistinnen.

Spätestens seit zwei Jahren steht der Verdacht im Raum, dass Polizisten Jalloh getötet haben könnten.

Unstrittig ist, dass Jalloh vor fast 15 Jahren in einer Gewahrsamszelle des Polizeireviers Dessau-Roßlau starb. Nahezu alles andere ist umstritten, vor allem die Frage, ob sich Jalloh selbst angezündet hat – das behauptet die Polizei – oder getötet wurde. Nach polizeilicher Darstellung war es dem stark alkoholisierten und mit Handschellen gefesselten Mann gelungen, ein Feuerzeug aus seiner Tasche zu holen und damit die Matratze anzuzünden. Kurz darauf starb er an einem Hitzeschock. Dass besagtes Feuerzeug zunächst nicht in der Zelle gefunden wurde und erst später in der Asservatenliste auftauchte, ist eine von mehreren Ungereimtheiten in diesem Fall – wie auch ein ignorierter Feueralarm, vernichtete Akten, falsche Polizeiaussagen und vieles mehr.

Oury Jalloh

Demonstration in Dessau für die Aufklärung des Falls Oury Jalloh.

Bild:
ddp images / Steffens

Das OLG Naumburg bestätigte nun die Einschätzung der Generalstaats­anwaltschaft, dass es keinen »hinreichenden Tatverdacht« für ein Ver­brechen gebe. Ein Verwandter von Jalloh war mit einem sogenannten Klageerzwingungsverfahren gegen die inzwischen zwei Jahre zurückliegende Entscheidung der Staatsanwaltschaft Halle vorgegangen, das Verfahren einzustellen. Das OLG bezeichnete den Antrag des Verwandten nun als unbegründet und unzulässig. Dem Gericht zufolge fehlten unter an­derem Angaben zu Beweismitteln, auf denen der Tatverdacht beruhe. Zudem habe der Antrag mögliche Tatmotive nicht schlüssig dargestellt.

 

Spätestens seit zwei Jahren steht der Verdacht im Raum, dass Polizisten den 36jährigen Jalloh getötet haben könnten, um frühere Verbrechen zu vertuschen. Bereits 1997 und 2002 waren zwei Männer gestorben, nachdem sie in das Revier gebracht worden waren. Die genauen Todesumstände blieben ungeklärt. Folker Bittmann, bis 2018 leitender Oberstaatsanwalt in Dessau, schrieb 2017 in einem Aktenvermerk, dass Beamte des Polizeireviers neue Untersuchungen in den beiden früheren Fällen gefürchtet haben könnten, falls erneut ein Vorfall mit einer schwerverletzten oder in Gewahrsam an schweren Verletzungen gestorbenen Person bekannt würde. Bittmann formulierte deshalb den Anfangsverdacht eines Mordes an Jalloh. Die Staatsanwaltschaft Dessau war ­zuvor jahrelang davon ausgegangen, dass sich Jalloh selbst angezündet hat. Mehrere Gutachter wiesen jedoch ­darauf hin, dass er dazu kaum in der Lage gewesen sein konnte und dass ­offenbar ein Brandbeschleuniger zum Einsatz gekommen war.

Mamadou Saliou Diallo (l., Bruder von Oury Jalloh) bei einer Pressekonferenz Ende Oktober in Berlin.

Bild:
dpa / Jörg Carstensen

In der vergangenen Woche wurde ein neues forensisches Gutachten bekannt, das die »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« bei dem Frankfurter Radiologieprofessor Boris Bodelle in Auftrag gegeben hatte. Es stützt die These, dass Polizisten den Gefangenen getötet haben, um etwas zu vertuschen. In dem Gutachten, aus dem die Initiative auf ihrer Website zitiert, heißt es: »Nach Begutachtung der Bilddateien der Computertomographie vom 31.3.2005 des Leichnams des Oury Jalloh sind Knochenbrüche des Nasenbeins, der knöchernen Nasenscheidewand sowie ein Bruchsystem in das vordere Schädeldach sowie ein Bruch der elften Rippe rechtsseitig nachweisbar.« Es sei davon auszugehen, »dass diese Veränderungen vor dem Todeseintritt entstanden sind«. Der Polizeiarzt hatte keine Verletzungen festgestellt, als Jalloh einige Stunden vor seinem Tod auf das Revier ­gebracht wurde.

Wegen der neuen Entwicklungen wurden erneut Forderungen nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss laut, beispielsweise erhoben von dem Bochumer Strafrechtsprofessor Tobias Singelnstein im Spiegel. Die neuen Erkenntnisse seien »eine kleine Sensation«, so Singelnstein. Bereits im Februar hatte die Fraktion der Linkspartei im sachsen-anhaltinischen Landtag erfolglos einen solchen Ausschuss beantragt. Die AfD stimmte dagegen; die Regierungskoalition aus CDU, SPD und Grünen enthielt sich. Bereits zuvor hatte der Landtag zwei parlamentarische Berater eingesetzt, die aber erst nach der Entscheidung über das Klageerzwingungsverfahren ihre Arbeit aufnehmen sollten. Sie sollen nun Zugang zu den Akten erhalten.

Für die Familie von Oury Jalloh und alle Unterstützer gibt es unterdessen nur noch eine Hoffnung auf gerichtliche Aufklärung: das Bundesverfassungsgericht. Wie das Portal Vice berichtete, hat Mamadou Saliou Diallo, der Bruder des Verstorbenen, dort Beschwerde gegen die Entscheidung des OLG Naumburg eingelegt.