Nachruf auf Sophinette Becker

Denken, Sprechen, Handeln

Die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker ist tot. Theoretisch stand sie in der Tradition der Frankfurter Schule. In ihrer Praxis begleitete sie Transmenschen auf dem Weg zur Geschlechtsangleichung.

Eigensinnig, liebevoll – und eine Autorität in Alltags- und Theoriefragen. Sophinette Becker prägte das 2006 offiziell aus finanziellen Gründen geschlossene, gesellschaftsanalytisch und klinisch ausgerichtete Frankfurter „Institut für Sexualwissenschaft“ (IfS) 17 Jahre lang als psychoanalytisch orientierte Psychologin mit Schwerpunkt Psychosomatik – nicht zuletzt als eine der ersten Frauen am Institut – und hielt noch bis 2011 die Sexualmedizinische Ambulanz am Leben. In eigener Praxis therapierte sie auch danach zahlreiche Transmenschen, die sie bei ihrem Transitionsprozess mithilfe ihrer jahrzehntelangen Erfahrung begleitete. Des Denkens, Schreibens und Arbeitens nicht müde werdend, veröffentlichte sie zahlreiche Texte, griff sexualpolitische Debatten auf und lud mit ihren Vorträgen zu teils kontroversen Diskussionen ein. Sie hinterlässt ein umfangreiches, historisch ebenso wie bezüglich aktueller Auseinandersetzungen spannendes Lebenswerk.

Mit 17 Jahren begann Sophinette Becker 1968 vom Nonneninternat kommend ihr Jurastudium in Berlin, das sie später für die Psychologie aufgeben sollte. Zunächst trat sie dem „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ bei, der Vorreitervereinigung der damaligen Studentenbewegung, und schloss sich, als sie weiter weg von ihrem Berliner Elternhaus nach Frankfurt zog aufgrund ihrer Sympathie mit der Spontibewegung dem „Revolutionären Kampf“ an. Dort war auch der frühere SDS-Vorsitzende und spätere Kollege Beckers Reimut Reiche engagiert. Orientiert an der Frankfurter Schule und der Psychoanalyse lernte sie die politisch ähnlich ausgerichteten Schwulenaktivisten der RotZSchwul Frankfurt kennen – wobei sie mit ihren Freunden nicht bloß das politische Denken, sondern auch die Leidenschaft zur Oper teilte. In Frankfurt würde Becker auch ihren späteren Kollegen und langjährigen Freund Martin Dannecker in dessen damaliger linker Wohngemeinschaft kennenlernen.

Der akademischen Karriere mit einer gewissen Verachtung gegenüberstehend, sich dieser nicht ohne Weiteres verschreibend und damit verkaufen wollend, zog Becker 1979 für zehn Jahre nach Heidelberg, um dort nach ihrem Studium an der psychosomatischen Klinik zu arbeiten. Schrieb sie wiederum, so tat sie das nicht aus karrieristischen Gründen: Das Schreiben musste aus einem inneren Impetus heraus stattfinden, mit der Überzeugung, dass es etwas Wichtiges gebe, das zu schreiben ihr als politische und persönliche Notwendigkeit erschien. Diesen Antrieb nahm sie wahr, als sie in der Heidelberger Hautklinik arbeitend mit den Folgeerscheinungen von AIDS konfrontiert wurde. Schon 1984 reiste sie nach Frankfurt um dort im linken Buchladen „Land in Sicht“ über die gesellschaftspolitische Dimension der Krankheit insbesondere in Bezug auf schwule Männer zu diskutieren.

 

Mit ihrem Beitrag in der November-Ausgabe der Zeitschrift „Psychologie heute“ wies Becker unter dem Titel „Aids, die Krankheit zur Wende?“ bereits 1985 auf die von Helmut Kohl akzentuierte geistig-moralische Wende und deren Zusammenspiel mit den gesellschaftspolitischen Folgen von AIDS hin: Vor allem die dadurch potentiell zunehmende Schwulenfeindlichkeit und eine rigide vorgehende Gesundheitspolitik. In diese politisch-theoretische Beschäftigung zunehmend involviert, nahm sie 1988 die Einladung an, in den Vorstand der „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung“ (DGfS) einzutreten und zog zurück nach Frankfurt, um dort am IfS zu arbeiten. Von dort aus blieb sie Stichwortgeberin im AIDS-Diskurs und nahm unter anderem 1990 an der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege ihrer Eindämmung“ im Bundestag teil, wo sie sich mit Kolleg_innen und Rita Süßmuth gegen die autoritäre Linie, die von Politikern wie Peter Gauweiler vertreten wurde, durchsetzen konnte. Auch im Zusammenhang der AIDS-Präventionsarbeit setzte sich Becker im Sinne ihres Verständnisses einer niemals konfliktfreien Sexualität ein, die man nicht durch einfache Kondomisierungsgebote verändern könne.

Am Institut Fuß gefasst und Feuer gefangen, arbeitete Becker in der zugehörigen Ambulanz mit zahlreichen Patient_innen, insbesondere Schwulen und Transmenschen. Ihr Interesse blieb der Schnittstelle von Psychosomatik, Psychotherapie und Kultur zugewandt – in eben dieser Kombination eine Einseitigkeit vermeidend. In der Sexualität sah Becker einen geeigneten Gegenstand, der sich inmitten ihrer Schnittstellen beleuchten ließ. Als konsequent erachtete sie folglich auch ihr politisches Verständnis der Sexualwissenschaft, die – wenn sie eine kritische sein soll – das Subjektive durchdringend gesellschaftliche Feindbilder und ihre Auswirkungen nicht als Nebensächlichkeit ihres Gegenstandes relativieren sollte.

Nicht ihre therapeutische, jedoch Beckers schriftliche Arbeit zu Transmenschen stand zeitweise in der Kritik: In ihren Fallvignetten wurde einerseits deutlich, dass sie das Ziel der Patient_innen und eben nicht die eigenen im Blick behielt – ganz gleich, ob sich jemand um die Begleitung zur Angleichung als Mann, Frau oder geschlechtslos entschied. Andererseits kritisierte Becker zugleich die teils von Aktivist_innen vertretene Ansicht, dass irreversible, medizinische Eingriffe in den Körper grundsätzlich ohne psychotherapeutische Begleitung und ohne jedwede Abwägungen alternativer, nichtinvasiver Wege durchgeführt werden sollen. Ein solcher Weg könne es unter Umständen sein, so Becker wiederum, den jeweils aktuell vorhandenen Körper in einer neuen Weise zu akzeptieren. Das sei nicht allen Menschen mit Transitionswunsch möglich, könne aber für einige eine hilfreiche und gute Option sein. Entsprechend äußerte sie sich kritisch zur Hormonvergabe im Jugendalter, wobei sie nicht – wie teils unterstellt – gegen dieselbe einstand, sondern eine behutsame Vergabepraxis forderte, die die Bedürfnisse und die spezifischen Konfliktlagen der jungen Patient_innen im Blick behalten sollte.

 

Ihren Ärger äußerte Becker wiederum angesichts der ewigen Weigerung der Bundesregierung – egal in welcher Parteienzusammensetzung – das Transsexuellengesetz (TSG) zu reformieren: Über das regelmäßige Einberufen einer neuen Kommission hinaus sei kaum etwas geschehen. Mit ihrer Stellungnahme zur Reform des TSG, die sie im Vorstand der DGfS verfasste, forderte Becker 2001 als erklärte Gegnerin der Zwangsoperation von Transmenschen zur Änderung des Personenstands die „vollständige Abkoppelung der juristischen Anerkennung im gewünschten Geschlecht von operativen Eingriffen” gegenüber dem Bundesinnenministerium.

Zentrales Interesse ihrer Arbeiten blieb die Sexualität. Als zentralen Gegenstand eines gesellschaftskritischen Erkenntnisinteresses durchdachte und platzierte Becker sie auch in den Fortbildungen für Psychotherapeut_innen, die sie unter anderem gemeinsam mit Dannecker anbot. In ihrem gemeinsam ausgearbeiteten Curriculum brachte sie Psychoanalytiker_innen die Kompetenz, über Sexualität zu sprechen, näher. Das verstand sie nicht zuletzt als Gegenbewegung zu dem ihres Erachtens fortschreitenden Verschwinden des Sexuellen in der Analyse. Zugleich verwob sie die Beschäftigung mit dem Sexuellen mit Gesellschaftskritik. Die kritische Sexualwissenschaft schließlich, sofern sie gut ist, müsse eine politische sein. Diese Ausrichtung, so Beckers Diagnose, ist mit dem Ende des Frankfurter Instituts ebenfalls in besonders sichtbarer Weise im Aussterben begriffen.

Beckers berechtigten Einschätzung zum Trotz lohnt es, sich ihren theoretischen Arbeiten zu widmen und mit ihrer Haltung weiterzudenken. Ihre Beiträge zu AIDS, zur weiblichen Perversion, zur Pädosexualität oder zu Trans sind durchzogen von der Ansicht, dass die Sexualwissenschaft die Psychoanalyse brauche – und vice versa, da sie sonst jeweils langweilig würden. In dieser Kombination baute Becker das Diktum Freuds aus, nach dem es keine Sexualität und keine Entwicklung ohne Konflikte geben kann – auch bei sogenannten Normalen. Sodass auch die Heterosexualität nicht als chemischer Vorgang zu verstehen sei und im Umkehrschluss die Homo- und Transsexualität auch dann entpathologisiert werden könne, wenn man sie nicht für rein angeboren begreift.

Dem Essenzialismus eine Absage erteilend, rief Becker in ihren Arbeiten stets auch den Körper in Erinnerung. In seiner fassbar leiblichen und beschränkten Form ebenso wie in den Fantasien um seine Überschreitung. Entsprechend leibnah sollte die Beschäftigung mit dem Sexuellen sein, nicht bloß auf symbolischer Ebene darüber nachdenkend, sondern sich am konkreten körperlichen Erleben der Subjekte orientierend. Diese Herangehensweise geknüpft an die Einarbeitung gesellschaftlicher Einflüsse zeichnet Beckers Denken aus.

 

Hinzu tritt deutlich in ihren Texten wie in ihren Auftritten die Lust an der Debatte, die gerne auch polemisch werden durfte, doch immer am Argument orientiert bleiben musste. Erarbeitete man einen neuen Vortrag oder bereitete einen Artikel vor, konnte man sich sicher sein, würde man sich an sie damit wenden, würde man eine durchdachte kritische Würdigung des eigenen Schaffens erhalten. Sie forderte das Denken heraus, rief zum Diskurs auf, indem sie ihrem Gegenüber zumutete, die eigene Position in Bewegung versetzen zu lassen. So erklärt sich auch ihr Beharren auf der Notwendigkeit des Durcharbeitens von Konflikten, ohne das sie sich eine dauerhaft wirksame Veränderung nicht vorstellen konnte. Hierzu zog sie gerne das Beispiel eines Kollegen heran, der ihr anvertraute, zwar nichts gegen Schwule zu haben, sich jedoch insgeheim auch weiterhin an deren psychische Unreife zu glauben. Dies nahm Becker zum Anlass, mit ihm über längere Zeit intensiv ins Gespräch zu gehen, seiner eigenen Schwulenfeindlichkeit auf den Grund zu gehen, um diese statt ein Lippenbekenntnis abzugeben, durchzuarbeiten und dann auch tatsächlich davon distanzieren zu können.

Das Denken machte ihr, so drückte sie es einmal pragmatisch aus, schlichtweg Spaß und ihre Zeit wollte sie mit Menschen verbringen, die ihr darin ähnelten. Mit diesem Ansinnen lud sie regelmäßig zu sich ein und verbrachte angeregt unterhaltsame Abende. Nicht nur zum Nachdenken, auch zum gemeinsamen Genießen – immer beim aufbrausenden und tiefsinnigen Gespräch – regte sie an. Als leidenschaftliche Raucherin servierte sie (nicht nur) bei besonderen Anlässen Creme-Törtchen in den schönsten Farben, die man mit ihr am Tisch sitzend auf einer Etagere garniert, zu ihrem einzigartig trockenen und klugen Humor genießen konnte.

Mit Sophinette Becker ist am 24. Oktober eine tiefsinnige Denkerin, liebevolle Mentorin und engagierte Therapeutin verstorben. Sie hinterlässt ihre Lebensgefährtin und mit ihr bis zuletzt im Diskurs stehende Kolleg_innen, Freund_innen und Zuhörer_innen. Diesen Diskurs heißt es in ihrem Gedenken weiterzuführen, von Herzen und leidenschaftlich zu debattieren, das kritische Denken zu koppeln an die Möglichkeit eines echten Durcharbeitens.