Der chilenische Präsident Sebastián Piñera hat die Polizeigewalt verurteilt

Brutale Erkenntnis

Man will nicht wissen, wo er sich in den Wochen zuvor herumgetrieben hat, aber mittlerweile hat er offenbar etwas genauer hingesehen. Am Sonntag gab der konservative chilenische Präsident Sebastián Piñera in einer Fernsehansprache zu, dass die chilenischen Ordnungskräfte bei der Niederschlagung der seit Mitte Oktober andauernden Proteste unverhältnismäßig brutal vorgegangen seien. »Missbrauch und Straftaten« seien begangen und Menschenrechte nicht respektiert worden. Es werde keine Straffreiheit für die Täter geben, so der 69jährige. Bis dahin hatte das Nationale Menschenrechtsinstitut (INDH) bereits 2 381 Verletzte gezählt, die in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten. Mindestens 24 Menschen starben im Verlauf der Proteste; mehr als 5 000 wurden festgenommen; etwa 200 erlitten schwere Augenverletzungen durch den Beschuss mit Gummigeschossen und Tränengasgranaten. Amnesty International spricht sogar vom einem »Muster«, nach dem die Polizei Protestierenden in die Augen geschossen habe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in über 1 000 Fällen gegen Ordnungskräfte. Die Vorwürfe reichen von brutaler Behandlung über Folter bis hin zu sexuellem Missbrauch von Protestierenden. Über 1 000 weitere Anzeigen wurden gegen Ordnungskräfte registriert.

Piñera betonte freilich, dass auch Protestierende, die sich des Vandalismus oder der Brandstiftung schuldig gemacht hätten, strafrechtlich verfolgt würden. Tatsächlich kam es während der Proteste, die sich an der Erhöhung der U-Bahnfahrpreise in Santiago de Chile entzündet hatten, häufig zu Vandalismus und Plünderungen (Jungle World 44/2019). Die Proteste breiteten sich landesweit aus, Hunderttausende demonstrierten – die allermeisten davon friedlich – für einen Systemwandel und gegen die enorme soziale Ungleichheit. Einige Zugeständnisse machte die Regierung bereits. Am Freitag vergangener Woche kam sie den Forderungen in einem weiteren Punkt entgegen und kündigte für April 2020 ein Referendum über eine neue Verfassung an. Die derzeitige stammt, bis auf einige Erweiterungen, noch aus der Zeit der Diktatur unter Augusto Pinochet. Manchen gehen die Zugeständnisse der Regierung aber noch nicht weit genug. Einige fordern den Rücktritt Piñeras, den dieser aber ablehnt.