Essay - Über die Aktualität des autoritären Charakters

Hass, Identität und Differenz

Der autoritäre Charakter ist ein Schlüsselkonzept der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, das in breiten empirischen Studien in den vierziger Jahren entwickelt wurde. Als analytisches Konzept fasst der autoritäre Charakter unterschiedliche Formen der beschädigten Subjektivität in der Moderne, die nicht psycho­logisch individualisiert, sondern politisch und gesellschaftlich in einem größeren Kontext – dem »antidemokratischen ideologischen Syndrom« – verortet werden. Karin Stögner fragt nach der Aktualität des autoritären Charakters unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Wie verhalten sich Individualismus und Autoritarismus zueinander und welche Bedeutung hat Differenz in derzeitigen Formen der Identitätspolitik des rechten und linken Lagers?
Essay Von

Autoritärer Charakter und Individuum

Ein wesentliches Charakteristikum des autoritären Charakters ist das Denken und Handeln in starren, vorgegebenen Kategorien und damit die Unfähigkeit zu lebendiger Erfahrung, was die Bildung eines autonomen und reflektierten moralischen, politischen und ästhetischen Urteils hintertreibt. Dabei beschränkt sich das Konzept des autoritären Charakters nicht auf einen individuellen Charakterzug und bezieht sich auch nicht auf einen politischen Niederschlag einer psychologischen Disposition. Es meint vielmehr umgekehrt, wie etwa Peter Gordon in seinem Aufsatz »The Authoritarian Personality Revisited: Reading ­Adorno in the Age of Trump« betont, eine strukturelle Eigenschaft der sozialen Ordnung und der politischen Kultur, die sich in der Persönlichkeitsentwicklung niederschlägt.

Das neoliberale Individuum liest sich wie die Antithese zu Adornos emphatischem Begriff des reflektierenden und urteilsfähigen Individuums. 

In der umfassenden ­empirischen Studie »The Authoritarian ­Personality« wird der autoritäre Charakter ausführlich und anhand von Typen dargestellt. Der Gegenentwurf bleibt hingegen auffällig unbestimmt. Anders als die high scorer, also diejenigen, die auf der Faschismusskala hohe Werte erzielen und somit ein hohes autoritär antidemokratisches Potential aufweisen, können die low scorer nicht so einfach in Typen gefasst werden, sondern gestalten sich jeweils unterschiedlich. Das veranlasst zu der Annahme, dass das Gegenbild zum ­autoritären Charakter autonome Individualität ist – ein Charakter, der sich nicht auf eine starre und rigide Regelstruktur zurückführen lässt, zu lebendiger Erfahrung fähig und nicht dem stereotypen Denken verfallen ist. Adorno und Horkheimer sprachen vom »freien, nicht blind an Autorität gebundenen Menschen«. Die wesentliche Unterscheidung liegt demnach in der Frage, ob eine Person standardisiert denkt, oder ob sie oder er wahre Individualität ausgebildet hat, Introspektion und Selbstreflexion zulässt und sich so dem gesellschaftlichen Druck zur Identität als Gleichmacherei widersetzt.

Bereits ab den vierziger Jahren stellten Adorno und Horkheimer ­allerdings fest, dass diese Form der Individualität nicht der gesellschaftliche Regelfall, sondern eher im Niedergang begriffen war, weil die Standardisierung gesellschaftlich immer mehr um sich griff und standardisierte Typen von Personen produzierte, die der reflektierenden ­Individualität widersprachen. Adorno beschrieb die high scorer nicht als autonome Individuen, die weitblickend und reflektiert Entscheidungen treffen, die für sie selbst und für die Gesellschaft wichtig sind, sondern als »willfährige Reaktionszentren«, die sich an dem konventionellen »das macht man so« orientieren und opportunistisch mit der Masse gehen.

Auch Walter Benjamin beschrieb in den späten dreißiger Jahren einen für die Moderne charakteristischen, tiefgreifenden Wandel in der menschlichen Erfahrungsfähigkeit. Der ­gesellschaftliche Prozess stößt den Menschen mehr zu, als dass er von ihnen bewusst erfahren würde.