Essay - Über die Aktualität des autoritären Charakters

Hass, Identität und Differenz

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Erfahrung zerfällt in vereinzelte Erlebnisse und die Wahrnehmung nimmt Schockcharakter an, der die Menschen zunehmend daran hindert, die einzelnen Momente ihrer subjektiven Wahrnehmung in ein Ganzes zu ­integrieren, einzelne Erlebnisse in Erfahrung zu verdichten. Diese Entfremdung von der Erfahrung verortete Benjamin, wie Horkheimer und Adorno, in der Moderne als einer Epoche, die zugleich die Geburtsstätte des »einsamen Individuums« ist. Das Individuum trug also, durch die bestimmte Form von Vergesellschaftung in der warenproduzierenden Gesellschaft, in der es überhaupt erst entsprang, von Anbeginn seine eigene Negation in Form von Isolation in sich. Robinson Crusoe ist der frühe literarische Nachvollzug dieser Entwicklung. Benjamin analysierte moderne Wahrnehmungsmuster als in den Warenfetisch verstrickt und als Echo auf die industrielle Warenproduktion: Gesellschaftliche Realität wird als eine Abfolge unzusammenhängender Geschehnisse erlebt, so wie in der industriellen Produktion von Waren die einzelnen Produktionsschritte isoliert voneinander erscheinen.

Die einzige Differenz, welche innerhalb der autoritären »ingroup« akzeptiert wird, ja die in den eigenen Reihen eine Überbetonung erfährt, ist die binäre, heteronormative Geschlechterdifferenz.

Für Benjamin führt diese Entwicklung zu einer »Art von neuem Barbarentum«, in dem es den Einzelnen immer weniger gelingt, eine Einheit des Lebens zu gestalten, sondern ihnen das Leben in eine Reihe unverbundener Sequenzen zerfällt. Sie können ihr Leben nicht bewusst führen, sondern bloß leben. Benjamin war aber nicht auf der Suche nach einer vermeintlichen Authentizität, weshalb sich seine Kritik auch nicht nostalgisch gegen die Moderne an sich, sondern gegen die Gespaltenheit der Moderne richtete, in der durch die gesellschaftliche Organisation der Produktion der Übergang von technischer Innovation zu menschlicher und gesellschaftlicher Innervation weitgehend blockiert ist. Stattdessen legt sich der technologische Schleier über die Wahrnehmungswelt der Einzelnen. Der autoritäre Charakter ist Resultat dieses einseitigen Fortschritts. Er ist der Inbegriff von Anpassung an die Gesellschaft, so wie sie ist, und verhindert deren qualitative Veränderung. Indem sie sich bereitwillig anpassen, formen autoritätsgebundene Individuen keine Individualität aus, handeln viel weniger als sie ­reagieren, und entsprechen so den Anforderungen der gegebenen Form von Arbeitsteilung. Sie fügen sich besser in die Erfahrungslosigkeit von Arbeit wie Freizeit unter den ­Bedingungen der Massengesellschaft ein als autonome Individuen, die aus diesem Blickwinkel zum Anachronismus werden, zu einem Ideal, das durch die Macht der Kulturindustrie und der Stereotypisierung des täglichen Lebens immer mehr zur Randerscheinung oder gar zu einer utopischen Unmöglichkeit wird.

Das sind also die dunklen Zeitdiagnosen, die sowohl in den »Studien zum autoritären Charakter« als auch in der »Dialektik der Aufklärung« in den vierziger Jahren oder in Benjamins Kulturkritik der dreißiger Jahre vorgebracht wurden. Dabei fand eine genaue Kontextualisierung in die gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen der Zeit statt – und zwar gemessen nicht nur am Nationalsozialismus, sondern auch an einer der am weitesten fortgeschrittenen demokratischen Gesellschaften, den USA.