Essay - Über die Aktualität des autoritären Charakters

Hass, Identität und Differenz

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Was aber bedeutet der autoritäre Charakter heutzutage? Hat das Konzept unter den veränderten politischen und ökonomischen Bedingungen immer noch Relevanz für die Analyse gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen? Und wenn ja, wo sind notwendige konzeptionelle Aktualisierungen vorzunehmen?

Anomie leistet dem autoritären Charakter Vorschub: Sie macht anfällig für Verschwörungstheorien ebenso wie für zutiefst funktionalistische Weltbilder, in denen Individuen nur noch unter dem Aspekt des Systemerhalts von Belang sind.

Festzuhalten ist, dass Anpassung als ultima ratio des gesellschaftlichen Überlebens ein zentrales Merkmal des autoritären Charakters ist – im Gegensatz zum nicht autoritätsgebundenen Charakter, bei dem der Anpassungsdruck geringer wirkt und der eine größere Kapazität aufweist, faschistischer Propaganda zu widerstehen und Individualität auszubilden. Vor dem Hintergrund landläufig als neoliberal bezeichneter Umgestaltung von Ökonomie, Gesellschaft und Staat seit den achtziger Jahren fragen zahlreiche Autoren und Autorinnen wie etwa Wendy Brown, ob die Unterscheidung zwischen autoritärem Charakter und Individualität aufrecht erhalten werden kann oder ob nicht das Konzept des Individuums selbst autoritär sei. In welchem Verhältnis steht ein emphatischer Begriff von Individualität, als Gegenposition zum autoritären Charakter, zu den sich selbst steuernden und optimierenden Individuen, die zum ideologischen Zentrum des Neoliberalismus wurden? Müssen wir mit Susan Buck-Morss Adornos unverwandtes Festhalten am Potential der kritischen Reflexion und Urteilskraft des Individuums als kompromittiert ansehen und damit auch die Betonung des Individuums gegenüber dem Kollektiv überdenken?

Zu betonen ist vorweg das first view-Paradox, dass der neoliberale Hype eines abstrakten Individualismus mit einem gesellschaftlichen und poli­tischen Bedeutungsgewinn von Kollektivismen und Nationalismen zeitlich zusammenfällt, also eine »Verschmelzung von radikalisiertem Individualismus mit essentialisierten Gemeinschaften« stattfindet, wie Paula-Irene Villa schreibt. Diese Zusammenhänge machen es notwendig, die zurzeit in Europa und in den USA vermehrt auftretenden Autoritarismen in Form apokalyptischer Wahnvorstellungen und exzessiver gesellschaftlicher Ausschlussmechanismen sowie die Permanenz von Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus vor dem Hintergrund »postindustrieller gesellschaftlicher Muster von Herrschaft« (Lars Rensmann) zu verstehen. Diese Muster inkludieren einen Sozial­darwinismus, der krude in verdinglichten ökonomischen Kategorien von Gewinnern und Verlierern, Erfolg und Versagen operiert und der den Diskurs um Modernisierungsverlierer als Ablenkungsmanöver hervorbringt.