Essay - Über die Aktualität des autoritären Charakters

Hass, Identität und Differenz

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Dieser idealtypischen Gegenüberstellung von individueller und kollektiver Identität ist jedoch entgegenzuhalten, dass beide Teil desselben Problems sind – nämlich der mangelnden Vermittlung von Gesellschaft und Individuum. Die liberale Konzeption der individuellen Identität verzichtet ganz auf soziale Einbettung und betrachtet das Subjekt als abstrakt, kontext- und körperlos und wiederholt so unausgesprochen die Norm der jeweils Herrschenden. Die kollektivistische Vorstellung von Identität hingegen sieht im Individuum lediglich die Repräsentation einer Gattung. Beide sind daher ­partikularistisch im schlechten Sinn.

Was in Identitätspolitik nicht stattfindet, ist eine Kritik am autoritären Identitätszwang und an gesellschaftlicher Kategorisierung von Menschen. Vielmehr wird Identität autoritär zum Prinzip erhoben, entgegen den Versprechen der Queer Theory, die das identitätslogische Denken in der Kategorie des genderqueer sich überschlagen ließ. Treffend ausgedrückt findet sich das bei Rogers Brubaker: »While genderqueer is itself a category – and thus might be subsumed under the notion of a neo-categorical stance – it is expressly understood (like ungendered) as what might be called an anti-categorical category: a category to end all cate­gories, as it were.«

Aber warum sehnen sich Menschen nach Gemeinschaft und Identität? Besagt nicht allein die Tatsache, dass wir ständig über Identität und ­Gemeinschaft sprechen, dass beides prekär und porös ist? Nach Fukuyama sehnen sich Individuen nach kollek­tiver Identität, weil sie soziale Wesen sind und sich deshalb den sie um­gebenden Normen anpassen wollen. Aber wenn wir das Identitätsproblem nicht als anthropologische Konstante betrachten und auch nicht ­individualisieren, sondern als gesellschaftlich vermitteltes Phänomen erkennen wollen, dann müssen wir den gesellschaftlichen Widerspruch im Sinn des Auseinanderklaffens von Anspruch und Wirklichkeit in Betracht ziehen: Die westlichen liberal-demokratischen Gesellschaften ­stellen sich den normativen Anspruch, die Freiheit, Autonomie und Chancengleichheit ihrer Mitglieder zu garantieren, und blockieren doch diese Ideale weitgehend durch ihre eigene Organisation. Solche strukturellen Diskrepanzen manifestieren sich auf vielfältige Weise: dem Zuwachs an Autonomie und Wahlfreiheit stehen zunehmende Verfügbarkeit und eine Formalisierung der sozialen Nahbeziehungen gegenüber. Den globalen und digitalen Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten sind gleichzeitig Vereinzelung und eine Erosion kommunikativer Vernunft eingeschrieben. Erweiterte Mobilität impliziert als negatives Potential ebenso Vulnerabilität und Erschöpfung des Subjekts. Durch solche ­Widersprüche hindurch erfahren die Individuen die Gesellschaft, in der sie leben, und häufig gelingt es ihnen nicht, diese Diskrepanzen zu integrieren. Die Folge sind Anomietendenzen, die Auflösung bindender und ­legitimer Werte und Normen. Anomie aber leistet dem autoritären Charakter Vorschub: Sie macht anfällig für Verschwörungstheorien ebenso wie für zutiefst funktionalistische Weltbilder, in denen Individuen nur noch unter dem Aspekt des System­erhalts von Belang sind, nicht jedoch als Selbstzweck.

Anomie impliziert Vereinzelung und macht das Aushandeln gemeinsamer emanzipatorischer Ziele unmöglich. Es fehlt der allgemeine reziproke Raum, in dem sie formuliert werden können. Nun wird gruppenspezifische Identität als Ideologie zum Ersatz für das gemeinsame Ziel und bietet eine einfache Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«, die in der neoliberalen Marktlogik, die das ganze Individuum erfasst, unbedingte Beantwortung verlangt. Identitäts­politik ist auch deshalb so erfolgreich, weil sie das legitime Bedürfnis einsamer und isolierter Individuen nach Gemeinsamkeit in verzerrter Form befriedigt. Für die Einzelnen ist es schwierig, sich kollektiver Identitäten als modernem Phänomen der Integration zu entziehen, gerade weil die Gesellschaft von ihnen abstrakten Individualismus verlangt. Hier zeigt sich, wie bereits ausgeführt, der ­gesellschaftliche Widerspruch: Bei aller Glorifizierung des Individualismus heutzutage wird den Einzelnen ihre Nichtigkeit und Prekarität beständig vorgeführt. Die Ideologie der vollen Identität der Einzelnen mit der Gruppe, wie sie der Psychoanalytiker Sama Maani in kritischer Absicht beschreibt, überbrückt diese Diskrepanz ideologisch, indem sie die identitäre Gemeinschaft gegen die Gesellschaft der Individuen ­mobilisiert.