Die russischen Behörden messen mit zweierlei Maß, wenn es um Gewalt gegen Frauen und Kritiker des Stalinismus geht

Wer zu viel nachfragt, macht sich verdächtig

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Zehntausende Menschen unterzeichneten eine Petition, die die Absetzung der Universitätsleitung in St. Petersburg und Ermittlungen gegen die 2008 untätig gebliebenen Polizisten fordert. In der Reenactment-Community fand der gefallene Bonaparte da­gegen Verständnis. »Wer wollte schließlich nicht schon einmal seine Frau ­umbringen?«, hieß es da, und zumindest sei Sokolow »nicht pädophil und nicht korrupt«.

Hier müsste es eher heißen, der Verdacht, er sei pädophil, wurde in den Medien nicht geäußert. Vielleicht auch deshalb, weil der Historiker in Russland für ein staatlich erwünschtes Geschichtsverständnis steht. Wer hingegen Nachweise für die Abgründe stalinistischer Gewaltherrschaft liefert, sieht sich medialen Diffamierungskampagnen und strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt, bei denen nicht selten der Vorwurf der Pädophilie erhoben wird.

Robert Latypow, der Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial in Perm, musste dies Anfang November nach einer Hausdurchsuchung erleben. Der Fernsehsender REN TV stellte ihm Fragen über angebliche Beweise, die den Verdacht auf Pädophilie nahelegten.

Latypow ist Zeuge in einem Verfahren wegen illegaler Waldrodung, für eine Anklage gegen ihn und seine ­Organisation scheinen die Beweismittel aber nicht auszureichen. Hintergrund ist eine Exkursion an den heute nicht mehr bewohnten Ort Galjaschor. In der Gegend gibt es viele Friedhöfe und Reste stalinistischer »Sondersiedlungen«. Angereist waren zur Exkur­sion im Sommer auch litauische Teilnehmer, denn dort befinden sich die Grabstätten von 99 unter Stalin verbannten Litauern. 2016 haben Litauer auf eigene Initiative eine Gedenktafel aufgestellt. Weil die lokale Verwaltung dagegen war, hat die Permer Gebietsverwaltung Memorial gebeten, diese Tafel zu legalisieren. Grabpflege an sich ist kein Verbrechen, doch laufen unter Leitung des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB nun Ermittlungen, weil das Umweltministerium einen Schaden von umgerechnet 1 150 Euro durch Waldrodung festgestellt haben will.

Darüber, dass sich ausgerechnet der FSB mit solch einer Lappalie beschäftigte, wunderte sich sogar die zuständige Beamtin, so Latypow. »Sie haben für sich einen Themenkreis bestimmt, der allein in ihre Kompetenz fällt«, vermutet er. Wer diese Regel breche, müsse mit Konsequenzen rechnen: »Deutsche, Franzosen, sogar Polen darf man einladen, Litauer nicht.«

In Hinsicht auf die historische Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen sind die litauisch-russischen Beziehungen sehr angespannt. Memorial Perm war bereits mit einer Geldbuße wegen unerlaubter Besetzung eines Waldgebiets abgestraft worden, was der Leiter Memorials bei einer Kundgebung als Einschüchterungsversuch des FSB kritisierte. Am nächsten Morgen tauchte dann der Staatsschutz im Büro von Memorial auf und durchsuchte auch Latypows Privatwohnung.

Jurij Dmitrijew, der Gründer der Organisation Memorial in Karelien, spürte im Wald von Sandarmoch die Überreste von über 9 000 in den drei­ßiger Jahren erschossenen Häftlingen auf. Nach einem Freispruch in einem Prozess wegen Kinderpornographie im vergangenen Jahr steht er nun wieder vor Gericht – dieses Mal wegen des Vorwurfs, seine Adoptivtochter sexuell missbraucht zu haben.