Picassos Ausnahme

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Picassos Ausnahme.

»Hallo Andreas!
1 000 Dank für das Review-Logo. Ist wirklich super und auf alle Fälle besser als das Gekritzel von Udo. Wir haben das schon gar nicht mehr beachtet, ­obwohl ich mich erinnere, dass wir ganz schön enttäuscht waren, als Udo das Teil ablieferte. Er kann viel besser zeichnen. Nun, keine Frage, dass wir deine Zeichnungen in Zukunft nehmen werden.
Aber der eigentliche Grund, warum ich für meine Verhältnisse so schnell antworte (für gewöhnlich setzt sie bei mir Schimmel an), ist, dass ich eine Anfrage habe: Wie du sicherlich weißt (nach den Unmengen von Eigenwerbung im Trust, hüstel), singe oder besser: sang ich bei Everything Falls Apart. Challenger Crew sind gerade im Studio, also wird die Split-LP so etwa im März rauskommen. Cover (von Dumbo aus Bologna), Poster etc. ist alles so gut wie fertig, aber wir möchten der Platte noch einen Flyer beilegen, bei der auf der einen Seite ein Statement, auf der anderen Seite eine Zeichnung (DIN-A4) sein soll. Und um diese Zeichnung geht’s. Wir hatten die Idee dazu schon länger (hätte mal ein Banner werden sollen), aber da keiner von uns einen passablen Zeichner kennt, haben wir die Sache einfach ins Eck abgelegt. Nach deiner »Review«-Zeichnung zu schließen, könntest du die Zeichnung aber durchaus hinkriegen. Ich sag dir jetzt ganz einfach mal, was wir uns vorgestellt haben: Überschrift soll sein: Our ignorance is their power. Dazu dann folgende Zeichnung: ein Typ, der vor dem Fern­seher sitzt und halt irgend ’nen Scheiß glotzt, während hinter seinem Rücken der ganze Dreck in der Welt abgeht: Krieg, Apartheid, Tierversuche etc., was er aber natürlich durch sein »auf-den-TV-Starren« gar nicht mitkriegt. Vielleicht kommt es auch ganz gut, wenn in seinem Gesicht die Augen fehlen? Oder die gleiche Idee mit Leuten, die auf nem Konzert sind und in Richtung Band schauen/hören (ohne Augen/Ohren), während sich die »wahre« Welt hinter ihrem Rücken abspielt.
Tja, das ist die Idee … Hättest du Lust, das zu machen? Es gibt aber natürlich noch einen Haken: Wir brauchen die Zeichnung so schnell wie nur irgend möglich, damit wir das Ding noch in die Platte tun können. Bezahlung: Unglücklicherweise können wir deine Bemühungen nicht sonderlich hoch honorieren. Also wird’s wohl auf ein Freiexemplar der Platte hinauslaufen.
Wenn du trotz der Widrigkeiten Gefallen an der Idee gefunden hast, dann ruf mich bitte gleich an, wenn du den Brief erhalten hast, damit ich weiß, ob du’s machst oder nicht.
Gut, ich hoffe von dir zu hören. Danke nochmal für die »Review«-Zeichnung. Pass auf dich auf,

Ciao
Thomasso«


Die Zeichnung erschien wie geplant im Frühjahr 1987 als Flyer (mit einer Liste von nicht an Tieren getesteten Kosmetika auf der Rückseite) in der Split-LP von Everything Falls Apart und Challenger Crew. Aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, fertigte ich trotz Zeitdruck sogar gleich zwei sehr ähnliche Entwürfe an. Die Originalzeichnung des grünen Flyers verschickte ich mit der Post und erhielt sie nie zurück. Den zweiten Entwurf, den ich noch besitze, habe ich mit Bleistift am Rand signiert: Andreas 12/5-2. Das bedeutet nicht, dass ich die Zeichnung vom 2. bis 5. Dezember angefertigt hätte, sondern dass ich in die 12. Klasse der Fachoberschule für Graphik in Hamburg ging. Ich werde die Zeichnung wohl auch als Kunstarbeit eingereicht haben. Eine Note ist leider nicht notiert. Ob ich eine Eins bekommen habe?

Es machte mich jedenfalls stolz, wenn ich die Zeichnung später irgendwo als Aufkleber auf Lederjacken oder im Schnipsel-Layout von Fanzines entdeckte. Letztendlich blieb es aber eine typische politische Auftragsarbeit. Klischeehaft und humorlos. Meine zeichnerische Hauptbeschäftigung sind zum Glück Comics geworden. Aber Picasso hat auch nur mal eine Ausnahme gemacht. Und diese Illustration ist eben mein persönliches Guernica.