Vergesst Woodstock! Fünfzigjährige Popjubiläen, an die zu erinnern sich lohnt

Vergesst Woodstock!

Für die Installation von Esoterik und Lebensreform im Pop schätzt man hierzulande die Hippies und Woodstock. Es gibt aber fünf andere 50jährige Jubiläen der Musikgeschichte, die 2019 in Deutschland zu kurz kamen.
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Zwei Bedingungen sollten Jubiläen genügen, um die Feuilletons zu füllen: Zunächst müssen sie »rund« sein, was normalerweise heißt, dass die Ordnungszahl des jeweiligen Jubiläums mindestens durch fünf teilbar ist. Gut trifft es sich zudem, wenn ein solches Jubiläum in die hochsommerliche Kulturflaute fällt. Woodstock brachte 2019 beides: 50 Jahre her und Termin Mitte August.

Entsprechend purzelten denn auch die Phrasen. Ohne mindestens die Erhebung des Festivals zum »Mythos« ließ es kaum ein Medium abgehen – Varianten dazu lauteten etwa »Mekka der Hippies« (Deutsche Welle) oder »Kathedrale in der Wildnis« (Kölner Stadt-Anzeiger). In ähnlichem Ton berichteten auch die Lokalteile über die dazugehörige Jubiläumskleinkunst in protestantischen Gemeindezentren, kommunalen Mehrzweckhallen und hauptstädtischen Touristenfallen: »Woodstock erwacht in der Nürnberger Egidienkirche zu neuem Leben«, titelte die Nachrichtenseite des Bayerischen Rundfunks, »Woodstock mitten in der Kreisstadt« fand der Donaukurier in Pfaffenhofen, während der Kreis-Anzeiger aus dem hessischen Wetteraukreis den »Spirit of Woodstock« in der Stockheimer Kulturhalle wiederentdeckte; last but not least präsentierte der Wintergarten an der Potsdamer Straße in Berlin eine »Woodstock Variety Show« und versprach auf seiner Website »artistische Körperkunst, kulinarische Raffinessen und mitreißende Musik: Woodstock-Feeling mit Gänsehaut-Garantie«.

Nirgendwo treibt man es mit dem Blumenkinderkult so bunt wie hierzulande. Denn es war der Hippie-Gestus, bärtig, barfüßig und naturnah, der den damals jungen Deutschen in den späten Sechzigern so viel mehr entgegenkam als sämtliche westliche Populärkultur zuvor und auch zur selben Zeit. Flower Power, im Sinne der Romantisierung des Ursprünglichen, passte – trotz anfänglich heftiger Friktionen – letztlich einfach zu gut in die Vorstellungswelten des deutschen Schlagers, der aus seiner Operettenvergangenheit ohnehin schon immer vor Vagabunden und Zigeunerbaronen gestrotzt und in der Nachkriegszeit den Landser-Kitsch als Fernwehmotiv à la Capri-Fischer hinzugenommen hatte.

Nicht zuletzt weil Wood­stock eigentlich schon überholt war, als es stattfand – die Hippies in San Francisco hatten ihre Bewegung schon Ende 1967 demonstrativ zu Grabe getragen – wurde es zum Erweckungserlebnis in der popkulturellen Wüstenei, die Deutschland bis dahin geblieben war. Nun war die eigene deutsche Tradition samt ihrer sehr spezifischen Esoterik auf einmal nicht mehr gestrig und peinlich, sondern erschien durch die Hippies fast schon geadelt, mindestens aber demilitarisiert und antifaschisiert. Birkenstock und Lebensreform, Anthroposophie und Naturheilkunde waren plötzlich aufgenommen in den Mainstream der Popkultur, sehr zu deren zukünftigem Schaden: Schlagertradition und Selbstfindungstrip macht eben zusammen alsbald Grönemeyer. Darum sei hier an 50jährige Popjubiläen erinnert, die es eher verdienen als Woodstock.

Nahezu eine Abdankung – Bob Dylan: »Nashville Skyline«

Nashville, Hauptstadt des Country, des Grauens und der Reaktion. So ­erschien die Hauptstadt Tennessees vor 50 Jahren jedenfalls vielen Pop­hörern an den Küsten der USA. Dass ausgerechnet Bob Dylan, auch in Europa als Inbegriff von Subkultur und Protest wahrgenommen, im Frühjahr 1969 nach Nashville ging, um mit Country-Musikern einzuspielen, ja, um sich in den Country-Sänger zu verwandeln, der er bis heute im Grunde geblieben ist – das war eine eindeutige Geste der Ablehnung des Habitus, dem Hunderttausende Festivalbesucher frönten, die sich wenige Monate später in Woodstock versammeln sollten. Das Festivalgelände lag ironischerweise in unmittelbarer Nähe des Hauses, in dem der damals in jeder Hinsicht ernüchterte Dylan zurückgezogen lebte.

Der britische Rockautor Clinton Heylin formulierte rückblickend, dass »es vielen als Abdankung Dylans erschien, in Nashville Aufnahmen mit Johnny Cash zu machen«. Eine Abdankung, die Dylans Erfolg jedoch nicht schmälerte, denn es gelang ihm, mit der LP »Nashville Skyline« ein anderes Publikum als bisher für sich einzunehmen. Die thematische und stilistische Veränderung Dylans war schon auf dem Vorläuferalbum »John Wesley Harding« (1967) zu erahnen; auf »Nashville Skyline« dann war die Metamorphose bis hin zum Gesangstil komplett: Weich, teilweise fast schmachtend klang der neue Dylan, der mit dieser Platte – eröffnet von einem Duett mit Johnny Cash – einem neuen Genre, dem alternative country, zum Durchbruch verhelfen sollte.

Elekrische Sonaten – Miles Davis: »In a Silent Way«

Auf einem ganz anderen musikalischen Terrain begründete Miles Davis ebenfalls ein neues Genre: den Jazz-Rock, genauer gesagt die sogenannte fusion. Im Juli 1969 erschien »In a Silent Way«, das erste Album von Davis’ später so bezeichneter »elektrischer Periode«. Hatte es im Jahr zuvor schon Rockbands gegeben, vor allem in Großbritannien, die ihre Musik durch ungewohnte Metren, improvisierte Passagen und den Einsatz von Soloblasinstrumenten dem Jazz angenähert hatten, ging Miles Davis den umgekehrten Weg: Er und nicht zuletzt auch Produzent Teo Macero strafften und dramatisierten die lockeren Strukturen und Improvisationen des Jazz. Vor allem brachten sie die einzelnen Passagen und Takes der Aufnahmesessions in klassisch dreiteilige Sonatenform, wobei sie jeweils zwei Themen verwoben; jede der beiden derart entstandenen Sonaten nahm eine LP-Seite ein.

Sie machten damit, wie in der psychedelischen Rockmusik bereits praktiziert, im Jazz aber hochverpönt, das Studio und die Abmischung zu eigenständigen musikalischen Produktionsmitteln. Das Ergebnis erzürnte viele Jazz-Kritiker und »revolutionierte die Jazz-Community«, wie Nick Southall im Guardian festhielt; die beteiligten Musiker, allen voran Keyboarder Joe Zawinul (Weather Report) und John McLaughlin (Mahavishnu Orchestra) prägten in der Folge den typischen Jazz-Rock, ohne den im Ohr viele Artefakte der siebziger Jahre heute noch unverständlicher als ohnehin schon wirken.

Von wegen Wassermann – The Stooges: »The Stooges«

»Well it’s 1969 okay all across the USA/It’s another year for me and you/Another year with nothing to do«. Lakonischer kann man sich wohl kaum distanzieren vom Wassermannzeitalter, das die Hippies ausgerufen hatten. Es sind die ersten Zeilen, die James Newell Osterberg Jr., besser bekannt unter seinem Pseudonym Iggy Pop, ein junger Tunichtgut aus Detroit, auf dem Debütalbum seiner Band The Stooges ins Mikrophon zugleich gelangweilt nuschelt und exaltiert kreischt – eine Art zu singen, an der Mick Jagger sein Leben lang scheitern sollte. Womit man heute noch provokante Wirkungen erzielen kann, exerzieren die Stooges hier bereits vor: Liebäugeln mit sexuellen und politischen Perversionen – Pop jault sich durch einen Song namens »I Wanna Be Your Dog«, Gitarrist Ron Asheton trug zum schwarzen Leder ein Ritterkreuz – kombiniert mit lustvoll primitiven musikalischen Mitteln. Bei Live-Auftritten der Band machte sich Frontmann Pop hemmungslos zur Zielscheibe von Publikumsaggressionen inklusive Ritzen mit Glasscherben. Das Fazit von Robert Christgau in der Village Voice vom August 1969 jedenfalls trifft es ganz gut: »stupid rock – at it’s best«.

Extreme in Moll – King Crimson: »In the Court of the Crimson King«

Ein Rock-Idyll auf der grünen Wiese – das lag seit dem Monterey Pop Festival im Sommer 1967 schwer im Trend. Die Rolling Stones wollten dieses Format im Juli 1969 nutzen, um sich nach dem kürzlich erfolgten Rauswurf des Bandgründers Brian Jones in neuer Harmonie zu präsentieren. Alles war gut geplant, sogar die Sonne schien über dem Londoner Hyde Park, und auch Jones’ mysteriöser Tod im Swimmingpool zwei Tage zuvor störte nicht: Die Band hatte 200 weiße Schmetterlinge dabei, um sie zum Gedenken flattern zu lassen. Nur bei der Auswahl der Vorbands unterlief dem Management ein Missgriff namens King Crimson. Die Band um Gitarrist Robert Fripp, der nichts so sehr verabscheute wie die üblichen Blues-Klischees, schockierte die knapp 500 000 Besucher mit dem Opener ihres im Oktober erscheinenden Debütalbums »In the Court of the Crimson King«. »21st Century Schizoid Man« überfiel das Publikum erst mit schmerzlich verzerrten Riffs und Schreigesang, um dann nahezu ­unvermittelt in frenetische Bebop-Unisono-Läufe umzukippen; binnen acht Minuten Spielzeit wechselten bruchartig Stile und Takte – von 2/4 bis 12/8 –, kaum jemand traute seinen Ohren, am allerwenigsten die Stones, deren Material daneben eher altbacken wirkte. King Crimsons Debütalbum im Oktober 1969 hielt, was ihr Auftritt versprochen hatte. Fast durchgängig in Moll gehalten, durchläuft es musikalische Extreme: zähneknirschende Aggression, pastorale Idylle, zarte Reduktion und hymnische Ekstase. Auch sie setzten damit den Maßstab für ein eben erst entstehendes Genre: den Progressive Rock.

Mecki statt Matte – Laurel Aitken: »Skinhead Train«

Während junge Männer in Deutschland ihre Haare so langsam über die Ohren sprießen ließen, provozierten in Großbritannien Altersgenossen zur selben Zeit damit, dass sie sich die Haare abschnitten. 1969 gilt als Entstehungsjahr einer Subkultur, die in Deutschland erst bekannt wurde, als sie dabei war, auf den (faschistischen) Hund zu kommen: die der Skinheads. Ihren Habitus bestimmte vor allem die Unlust, den Weg des Mod-Milieus in die psychedelischen Gefilde des swinging London mitzumachen. Je länger die Matten der anderen, desto kürzer die Meckis der hard mods, die man bald auch suedeheads oder eben Skinheads nennen sollte. Sie hielten fest an den hergebrachten Sitten: Modisch am Ben-Sherman-Hemd, musikalisch am Soul und vor allem der jamaikanischen Spielart des Rhythm ’n’ Blues, dem Ska; der erhält seinen charakteristischen Sound durch das Offbeat-Spiel des Gitarristen, der den Rhythmus quasi verschleppt.

In Großbritannien etablierte sich der Ska im Laufe der sechziger Jahre als eine Art Erkennungssound für proletarische Kids (nicht wenige von ihnen hatten einen karibischen Migrationshintergrund, wie man heute sagen würde), der seine eigenen, in Kontinentaleuropa unbekannten Matadore hatte: Der bekannteste von ihnen war Laurel Aitken, geboren 1929 als Lorenzo Aitken in Kuba, der 1969 nicht weniger als 20 Singles veröffentlichte: Darunter war »Skinhead Train«, ein Stück, das sich bis heute bei den Anhängern des spirit of ’69 ungebrochener Beliebtheit erfreut.