Ein Gespräch mit Adelheid Biesecker, Volkswirtin, über Zeit, Pflege und das gute Leben

»Wir haben keine Zeit für so viel Erwerbsarbeit«

Interview Von

Was ist ein gutes Leben und welche Rolle spielen Zeit und Arbeit darin?

Ein gutes Leben bietet die Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, das Leben zu gestalten, in Zusammenhang mit anderen und mit der Natur. Das heißt, gutes Leben wird nicht nur einfach über Geld definiert. Gute und anerkannte Arbeit ist ein Teil des guten Lebens. Die US-amerikanische Philo­sophin Martha Nussbaum hat zehn Voraussetzungen dafür formuliert, zu ­denen auch gehört, einen Arbeitsplatz zu haben, der anerkannt und wert­geschätzt ist.

Zeit gehört zum guten Leben, weil wir vor allem auf die sorgenden Tätigkeiten schauen müssen, also die Sorge für sich selbst, für andere Menschen, für die Natur, für die Gesellschaft. Da ist nicht nur Zeit als Quantität nötig, sondern sie kann sich auch an Zyklen orientieren. Man benötigt Zeit, um ein Kind zu pflegen und aufwachsen zu lassen. Unsere Erwerbsarbeitszeiten sind das, was wir Taktzeiten nennen, also lineare Zeiten, da geht es einfach nur nach Stunden und jede Stunde ist gleich. In der sorgenden Tätigkeit, auch in der Alten- oder Krankenpflege, geht es um ganz andere Zeiten. Da geht es um Rhythmen und zyklische Zeiten.

Verträgt sich das bestehende Modell der Erwerbsarbeit mit diesen unterschiedlichen Strukturen von Zeit?

Die Zeit der Erwerbsarbeitssphäre ist die beherrschende. Das sehen sie zum Beispiel an Verkehrsströmen, die richten sich vor allem danach, dass Menschen schnell und einfach zum Arbeitsplatz kommen sollen. Die Frage, wie ­jemand das Kind gut zum Kindergarten bringt, spielt keine Rolle bei der Verkehrsplanung.

Es geht um die Zeittakte; sogar bei sorgenden Tätigkeiten, die bezahlt werden. Auch die Altenheime und Pflegedienste werden im Grunde diesen Zeittakten unterworfen. Diese lineare Zeit erklärt sich aus dem Ziel der Ökonomie, so viel Profit wie möglich zu machen. Wenn man schneller als die Konkurrenz die gleichen Waren produziert, dann kann man einen Extraprofit machen. Je mehr pro Stunde produziert werden kann, desto besser.

Hat sich das Verhältnis zur Arbeitszeit und zur Zeit allgemein verändert?

Die Industrialisierung schuf massenhaft Arbeitsplätze in der Industrie. ­Daraus entwickelte sich der lineare Zeittakt. Wir kennen es von der Fließbandfertigung, die inzwischen ja auch etwas anders ist. Die Zeitforscherin Barbara Adam sagt, dass die Zeitlandschaften eigeebnet werden, es gibt nur noch eine Zeit. Daran sind wir gewöhnt. Wenn sie beispielsweise einen Termin machen wollen, dann zückt jemand seinen Terminkalender und sagt, da habe ich keine Zeit, da habe ich keine Zeit, da habe ich keine Zeit. Dann gilt er als wichtig und beschäftigt. Zeit zu haben, bedeutet, dass ganz schnell gefragt wird: »Machst du nichts?«, »Bist du faul?«, »Willst du nicht arbeiten?«. Der Begriff der Muße ist kein moderner Begriff.

Und dass die Natur, nicht nur der Mensch, zyklische Zeiten braucht, kommt nicht vor in diesem linearen Zeittakt. Die ­Natur muss sozusagen liefern, liefern, liefern, damit die Produktion laufen kann. Wir schicken unsere Kinder um acht Uhr zur Schule, obwohl Pädagogen wissen, dass die Kinder vor neun Uhr nicht gut lernen können. Aber die Eltern müssen zur Arbeit und die Kinder daher in die Schule oder in den Kindergarten.

Sollte sich die Erwerbsarbeitszeit besser an den anderen Zeitstrukturen orientieren?

Wir betrachten das Thema heutzutage aus dem Produktionsbereich, aus der Marktökonomie. Wir fragen: Was können die Lebensprozesse und was kann die Natur tun, damit die Märkte funktionieren? Ich denke, wir sollten die Perspek­tive wechseln. Wir müssen von den sorgenden, den eigentlich nicht am Markt bewerteten Tätigkeiten her, die aber ­lebensnotwendig sind, und auch von den Naturprozessen her auf das andere schauen. Dann wird deutlich, dass wir keine Zeit haben für so viel Er­werbsarbeit. Wir haben so viel anderes zu tun, wir brauchen deutlich kürzere Erwerbsarbeitszeiten.

Aber auch die kürzeren Erwerbsarbeitszeiten müssten so verändert werden, dass sie beispielsweise Rücksicht nehmen auf die Erneuerung der Naturressourcen und die Erneuerung der Lebenskräfte der Arbeitenden. Das heißt auch zu schauen, inwieweit Menschen in ihren dann kürzeren Erwerbsarbeitszeiten noch Sorgearbeit in der Familie, der Nachbarschaft, für die Natur und für die Gesellschaft leisten können.

Es wird ­sicherlich so bleiben, dass auch die kürzeren Arbeitszeiten eher lineare sind, aber man muss die industrielle Arbeit, die Erwerbsarbeit auch qualitativ anders gestalten, indem man fragt: Was brauchen wir an Ressourcen, wo werden diese wiederhergestellt, was können wir nutzen und wo müssen wir auf­hören, Ressourcen zu nutzen, weil diese viel mehr Zeit brauchen für die Rege­neration als wir für die Produktion.

Die Zeit, die Menschen für die Sorgearbeit nutzen, für die Familie, Freundinnen, die Natur, sich selbst, soll stärker in den Blick genommen werden. Diese Zeit ist zwar Vor­aussetzung für einen funktionierenden Markt, aber sie unterliegt nicht den Bewertungskriterien des Marktes. Ist ein Leben in diesem Bereich nicht vielleicht sogar besser? Gehört die Zeit dort noch den Menschen?

Das ist ja genau das Problem. Die linearen Erwerbsarbeitszeiten beherrschen alles andere. Wir sehen es besonders bei der neuen Form von Arbeit, die viele zu Hause erledigen. Man stellt fest, dass das Leben zunehmend den Erwerbs­arbeitszeiten unterworfen ist – auch zu Hause. Wir haben ja nun einmal kapitalistische Ökonomiestrukturen, die uns nicht in Ruhe lassen. Was in der außermarktlichen Sphäre passiert, ist aber die Voraussetzung für den Markt und wird ständig weiter ausgebeutet.

Es gibt den Begriff der globalen Versorgungskette. Wir holen uns Sorgekräfte aus Südosteuropa oder von noch weiter her, oder unser Gesundheitsminister fährt nach Mexiko, um Pflegekräfte zu holen. Dort entsteht dann eine Lücke, wofür wir selbst keine Kosten tragen – die anderen Länder tragen sie. Das heißt, es geht um eine ganz andere Rationalität der Gesellschaft, deswegen sprechen wir vom »vorsorgenden Arbeiten«. Heutzutage ist beim Tätigwerden zu fragen: Was heißt das für die Lebensprozesse und was heißt das für den Erhalt der Lebensprozesse von Mensch und Natur für die Zukunft. Wenn wir es so belassen, wird die Zerstörung des Sozialen und des Ökologischen so weitergehen.

Woher kann der Impuls für eine solche Veränderung kommen?

Wir haben eine Vielzahl von kleinen und großen sozialen Bewegungen, die andere Zeitmuster ausprobieren. Es gibt zum Beispiel das Programm »Neulandgewinner«, bei dem Menschen ­einen alten Landwirtschaftsbetrieb oder ein riesiges altes Haus neu beleben und dort selbstbestimmt leben und arbeiten und zwar unabhängig vom line­aren Zeitdiktat. Ähnlich ist es in der gemeinschaftlichen Landwirtschaft, in der Menschen aus der Stadt Landwirte darin unterstützen, ihre Produkte zu guten Preisen an diese Gruppe zu verkaufen. Damit vermögen sich ­Landwirte vom Markt und seinen Zeitdiktaten unabhängig zu machen und Landwirtschaft auf ökologische Prozesse um­zustellen.

Es gibt eine ganze Menge solcher Projekte, zum Beispiel auch in der globalen Frauenbewegung. Das eine sind also die sozialen Bewegungen, das andere ist die jüngere Generation, die sagt: Wir wollen nicht so arbeiten wie die Alten. Wir wollen nicht die 40-Stunde-Woche haben. Gerade die Fachkräfteknappheit ist interessanterweise ein Punkt, auf den die Unternehmen reagieren, weil sie die jungen Leute haben wollen. Es gibt Unternehmen, die vielfältige Zeitmuster haben, Unternehmen, die auch Männer, nicht nur Frauen, kürzere Arbeitszeiten, ­Arbeitszeitkonten und Sabbaticals anbieten.

Selbstverständlich wäre es gut, ein Arbeitszeitgesetz zu haben, das besagt: Es wird nicht länger als 30 Stunden gearbeitet. Das wird nur im Augenblick nicht diskutiert. Soll in der Familie ausgehandelt werden, wie man mit­einander lebt? Ja, natürlich, aber als Einzelner kann ich nicht die Strukturen ändern. Da geht es immer darum, mich mit anderen zusammenzuschließen.

Auch wenn die Arbeitszeit flexibler gestaltet wird, kommt es zu Aus­beutung. Die Arbeitszeit wird sogar ­länger und auch die Zeiteinteilung zwischen den Geschlechtern wird ungerechter.

Vollständig richtig. Das wird sich auch nicht ändern, wenn wir nicht die Perspektive weg vom Markt und auf die Prozesse legen. Die Frage ist: Was ist ­eigentlich das Wichtigere? Sind es diese Produktionszeiten? Oder sind es ­Lebenszeiten? Und da ist in unserer Gesellschaft die Bewertung eindeutig: Es geht um die Produktionszeiten. Die US-amerikanische Politologin Joan Tronto spricht von vorsorgender Demokratie. Sie sagt, es gehe darum, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der jeder Mensch, Mann und Frau, jederzeit die Möglichkeit habe, zu sorgen und umsorgt zu werden. Es ist insgesamt ein großer Umwertungsprozess nötig.

Wir haben ­immer noch ein hierarchisches Geschlechterverhältnis. Männer und Frauen müssen gleichermaßen die Möglichkeit haben zu wählen, was sie ­machen, ihre Zeitrhythmen zu bestimmen, müssen Freiheit haben in der Gestaltung ihres Lebens. Diese Freiheit gibt es nicht. Es sei denn, man ist sehr vermögend, dann hat man vielleicht solche Freiheiten. Es kommt darauf an, gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die solche Freiheiten ermöglichen.

Was entgegnet man Geringver­dienern, die sich ihre Zeitrhythmen noch viel weniger aussuchen ­können?

Ich kann nicht von Zeitwohlstand vor Arbeitslosen sprechen. Die haben viel Zeit und überhaupt keinen Wohlstand. Wenn wir über Zeit reden, über das Ganze der Arbeit – damit meine ich nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern gerade die sorgenden Tätigkeiten, die Sub­sistenzarbeit, die Eigenarbeit – dann müssen wir auch über andere Formen von Einkommen sprechen. Dann kommen wir zur Grundeinkommens­debatte. Einem Hartz-IV-Empfänger kann man nicht erzählen, er habe Zeitwohlstand.

Die Person braucht die Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Kürzlich hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts deutlich gemacht, dass manche Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger menschenrechtsver­letzend sind. Das Menschenrecht auf die eigene Lebensgestaltung muss also überhaupt erst einmal hergestellt werden.